„Carmen“ ist das, was man eine sichere Bank nennt. Viel gespielt. Beliebt. Selbst wenn irgend etwas daran nicht so ganz gelingt oder gar daneben geht, füllt sie die Häuser. Es bleiben die Habanera, mit der Carmen und das Auftrittslied, mit dem der Torero Escamillo in den Kampf ziehen. Es gibt Micaëla und auch Don Josés schwelgerische Verbundenheit mit der Mutter und der Heimat. Dass der gute Junge ein von heute und von Mitteleuropa aus gesehen ziemlich verschroben überholtes Frauenbild hat und man sich eigentlich nur hinter Carmens Lebens- und Freiheitsbegriff stellen kann, ist eine andere Geschichte.
So wie Bizet und seine Librettisten Meilac und Halévy das Ganze nach Prosper Mérimées Novelle für die Bühne aufbereitet haben, ist diese französische Spanienoper schlechthin eigentlich immer (noch) ein ziemlich spannender Thriller. Um besitzergreifende Liebe, das Spiel mit dem Feuer der Leidenschaft und eine tödlich endende Eifersucht. Oper eben.
Ausflug in ein anderes Jahrzehnt von Theaterästhetik
Im Großen und Ganzen kann man da eigentlich nicht viel falsch machen. Im Einzelnen aber eine ganze Menge. Wie man jetzt an der Oper Leipzig in Lindy Humes Neuinszenierung besichtigen kann. Die mutet nicht nur wie die Reise in eine andere geographische und historische Ecke Europas an, wie sie erwünscht und vorgesehen ist. Die ist hier auch ein Ausflug in ein anderes Jahrzehnt von Theaterästhetik. Diese Inszenierung bedient Klischees da, wo sie nerven, verweigert sie aber genau dort, wo sie der Knaller sein könnten. Auf der einen Seite tümelt der Chor vor sich hin was das Zeug hält oder wer auf Knien betet, reckt die Hände gen Himmel, dass es jeden Gott erbarmen müsste. Von dem präzisen Kopfschuss und der platzenden Theaterblutblase an der Mauer hinter der in Zeitlupe dahin sinkenden Carmen am Ende ganz zu schweigen. Auf der anderen Seite aber erkennt man Carmen im diffusen Bühnenbeige der anderen Arbeiterinnen bei ihrem erstem Auftritt ebensowenig auf Anhieb, wie dem Torero im Pelzkragen-Mantel jedes optische Stierkämpfer-Olé verweigert wird. Hinzu kommt, dass die Sänger auch noch dazu verdonnert werden, die Sprechtexte aus welchen Gründen auch immer brav in Französisch zu absolvieren, was zusätzlich lähmt.
Die Inszenierung der Australierin Lindy Hume ist zwar nicht bei der durchaus postulierten Befragung der populären Vorlage, wohl aber beim Griff in die Kiste mit den ausrangierten Bewegungsklischees konsequent. Und Ausstatter Dan Potra leistet dabei tatkräftige Schützenhilfe. Zwei gewaltige Mauerelemente beherrschen die Bühne. Zwischen verputzt und bröckelnd. Mal mit Durchgang nach hinten, mal als geschlossene Ecke. Hier findet sich der Zugang zur Zigarettenfabrik. Bei den Schmugglern gibt es einen funkelnden Sternenhimmel und eine Projektion, die die Mauer als Felsen illuminiert. Schauplatzwechsel lassen sich damit immerhin schnell auf offener Bühne bewerkstelligen.
Olena Tokar aber ist der Lichtblick des Ensembles
Es ist nicht immer so, aber diesmal geht Micaëla als Siegerin vom Platze. Sie kriegt zwar als Bühnenfigur auch in Leipzig nicht das, was sie eigentlich will, obwohl sie am Ende sogar mit vollem Einsatz um Don José kämpft. Olena Tokar aber ist der Lichtblick des Ensembles und kriegt dafür den verdienten Szenenapplaus, den das Leipziger Publikum nach der Habanera der Carmen versagt hatte. Auch Sandra Maxheimer und Bianca Tognocchi profilieren die kleinen Rollen der Mercédès und der Frasquita. Wallis Giunta als Carmen freilich ist das Problem. Äußerlich gegen das Klischee der schwarzhaarigen Verführerin besetzt, ist sie auch stimmlich zu kontrolliert, zu wenig leidenschaftlich. In ihrer letzten, tödlich endenden Begegnung mit Don José hat sie in einen Habitus a la Bernarda Alba gewechselt. Eigentlich gewinnt sie erst damit wirklich Profil. Doch da ist es längst zu spät. Der italienische Tenor Leonardo Caimi verkörpert hier den familienaffinen Schwiegersohntyp – seine übergriffig handfesten Ausbrüche, bei denen einmal kurz hintereinander sowohl Micaëla als auch Carmen zu Boden gehen, wirken dagegen fremdgesteuert. Auch Gezim Myshketa kommt (bei seinem bereits 15. Escamillo) auch nicht gerade wie ein spanisches Symbol für körperbetonte Männlichkeit rüber. Die beiden singen betont kultiviert, durchaus schön, aber mit kalkuliertem Temperament.
Matthias Foremny am Pult des Gewandhausorchesters ist dicht bei den Sängern. Was ja eigentlich eine Kapellmeistertugend ist, wirkt diesmal prozyklisch. Das Orchester fängt die Defizite der Inszenierung musikalisch nur teilweise ab. Auch der Jubel fürs Orchester war in Leipzig schon enthusiastischer.
Intendant Ulf Schirmer wollte explizit einige umstrittene Inszenierungen der Zeit vor seiner Intendanz gleichsam mit Neuproduktionen korrigieren. Im Falle von Bizets „Carmen“ galt dieser Ehrgeiz Tatjana Gürbacas Version aus dem Jahre 2009, der tatsächlich, eine gewisse Überambitioniertheit im Wege stand. Gürbaca bot aber wenigstens Substanz, über die man sich aufregen konnte. Diesmal heißt es vor allem: Durchhalten!
Dementsprechend hörte sich auch der Beifall des Leipziger Publikums an.