Einmal mehr richtete das Musikfest Berlin am vergangenen Sonntag den Fokus auf die Wiederaufführung eines restaurierten Stummfilms mit neu konzipierter Musik. Im Großen Saal des Konzerthauses am Berliner Gendarmenmarkt erstrahlte Max Neufelds „Hoffmanns Erzählungen“ (Österreich 1923) in neuem Glanz, von Johannes Kalitzke mit einer anspruchsvollen sinfonischen Partitur versehen. Es spielte das Konzerthausorchester unter Leitung des Komponisten.
Bis 2017 war Max Neufelds Film „Hoffmanns Erzählungen“ (1923), basierend auf Jules Barbiers Libretto zu Jacques Offenbachs gleichnamiger Oper, lediglich in einer gekürzten Fassung von mangelhafter Qualität bekannt. Die Wiederentdeckung eines Nitropositivs ermöglichte jedoch eine Restaurierung des vollständigen Werkes u.a. in Kooperation mit ZDF/Arte und dem Konzerthaus Berlin. Die musikalische Neuvertonung in zeitgenössischem Klanggewand legte man in die Hände des Komponisten Johannes Kalitzke, der sich im zurückliegenden Jahrzehnt bereits mehrfach ähnlichen Aufgaben widmete und Partituren zu Friedrich Zelniks „Die Weber“ (2011), Arthur Robison „Schatten“ (2015/16), Robert Wienes „Orlacs Hände“ (2017) sowie jüngst gar eine die Filmleinwand in Richtung Musiktheaterbühne überschreitende Vertonung von Carl Theodor Dreyers „Jeanne d’Arc“ (2018/19) vorlegte. Wer diese vielschichtigen Arbeiten zur Kenntnis genommen hat, konnte ahnen, dass Kalitzkes Musik zu „Hoffmanns Erzählungen“ keine spätromantischen Klänge à la Richard Strauss oder gar Melodieadaptionen aus Offenbachs Oper zum Filmbild beisteuern würde. Die Auseinandersetzung mit dem historischen Filmkunstwerk diente dem Komponisten vielmehr auch diesmal dazu, die Ereignissen auf der Leinwand um eine Tiefendimension zu bereichern, die sich dem Nachdenken über kulturgeschichtliche Zusammenhänge verdankt.
Hoffmann und Beethoven
Dass der Schriftsteller und Komponist E.T.A. Hoffmann in vielen seiner Dichtungen ein Augenmerk auf die dunkle Seite der menschlichen Seele legte, geht aus jenen drei bekannten Erzählungen – „Der Sandmann“, „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“ und „Rat Krespel“ – hervor, die in der Handlung von „Hoffmanns Erzählungen“ zu einer mehrteiligen Geschichte verwoben sind. Dass Hoffmann darüber hinaus in seiner Funktion als Musikkritiker mit seiner wortgewaltigen Deutung der Instrumentalmusik Ludwig van Beethovens eine wirkungsmächtige Annäherung an den komponierenden Zeitgenossen verfasste, ist eine weitere bedeutsame Facette seines Wirkens. Genau hier setzt Kalitzke an: Die Filmmusik, im Untertitel als „Beethoven-Variationen für Orchester“ bezeichnet, nimmt die Zeitgenossenschaft der beiden Künstler ernst und schöpft aus einem imaginierten, aus Splittern von Beethovens Musik bestehenden Erfahrungsraum. Als Grundlage hierfür dienen die jeweils ersten Akkorde der neun Sinfonien, deren charakteristische Klangsignale – etwa gleich zu Beginn der eröffnende Tonikaseptakkord der ersten und der triolische c-Moll-Rhythmus der fünften Sinfonie – zwar erkennbar bleiben, aber übergangslos ineinanderfließen, ohne sich zu thematischen Gestalten zu verfestigen. Es ist der als spezifischer instrumentaler Gestus, harmonische Einlagerung oder orchestrale Farbe wahrnehmbare Widerhall solcher Signaturen, den Kalitzke im Verlauf der drei Filmkapitel in unterschiedliche musikalische Kontexte einbettet, um so unter instrumentatorischem Bezug auf die Beethoven’schen Schaffensschwerpunkte Klavier, Streichquartett und Sinfonik klangfarblich voneinander abgegrenzte Abschnitte zu schaffen.
Mit dieser konzeptuellen Idee nähert sich Kalitzke wiederum der Arbeitsweise des Schriftstellers Hoffmann an: So wie sich in dessen Erzählungen das Alltägliche, scheinbar Vertraute durch minimale Verschiebungen zum Unheimlichen und Bedrohlichen wandelt, werden die Einsprengsel aus Beethovens Musik zu Phantomen und Schemen, die sich von ihren ursprünglichen Erscheinungsweisen entfernen und ein geisterhaftes Eigenleben zu entfalten beginnen. Genau diese auf Aspekte der Tiefenpsychologie verweisende Strategie der Verlagerung nutzt Kalitzke, um die Doppelbödigkeit der filmischen Erzählung herauszuarbeiten. Dabei verweigert er sich einer untermalenden oder stimmungserzeugenden Art der Anlagerung von Musik und schafft einen komplexen musikalischen Assoziationsraum, der weit über das kinematografisch Eingefangene hinausgeht und mit den ihm eigenen Mitteln hinter die Bilder zu schauen scheint. In den besten Momenten zeitigt dies Wirkungen, die unmittelbar im Gedächtnis hängenbleiben: wenn sich etwa die Orchesterklänge durch Sampler-Zuspielungen in fahle, zerbrochene Schatten ihrer selbst verwandeln oder sich unter einem von der Leinwand herabstarrenden Augenpaar ein Sog orchestralen Brodelns öffnet.
Aufforderung zum Wiedersehen
Für das Konzerthaus-Orchester erwies sich die Uraufführung der fast 80-minütigen Filmmusik in spieltechnischer Hinsicht als große Herausforderung. Unter Leitung des Komponisten gelang allerdings eine sorgfältig abgestufte klangliche Umsetzung, die durch Modellierung von weit ausgreifenden Spannungsverläufen ebenso wie durch Gestaltung von Verdichtungs- und Zerfallsprozessen überzeugte. Dabei profitierten Augenblicke wie das Einfrieren der Musik in plötzlichen Abbrüchen oder die konzentrierte Anspannung in Haltepunkten immer wieder von jenem reichen Schatz an Erfahrungen, den Kalitzke mittlerweile durch seine andauernde, interpretierende wie komponierende Beschäftigung mit Stummfilmen angesammelt hat. Herausfordernd war die Aufführung jedoch auch für das Publikum, da sich die Vielschichtigkeit der Musik nicht bei der ersten Begegnung erschließen lässt. Genau darin aber liegt der Anspruch, den Kalitzke mit seiner Vertonung verknüpft: Hinter der Partitur steht die Aufforderung zum Wiedersehen und Wiederhören, der Wunsch des Komponisten, sich jenen Tiefendimensionen auszusetzen, die erst beim intensiven Nachdenken über Kunst kenntlich werden. Insofern darf man sich schon jetzt auf die vom Abspann in Aussicht gestellte DVD-Veröffentlichung dieses restaurierten und klanglich neu gedeuteten Filmkunstwerks freuen.