Vor gut hundert Jahren starb Max Reger, seinerzeit als großer Komponist ebenso anerkannt wie umstritten. Im Kreis um Arnold Schönberg etwa wurde er oft gespielt. 2016 hat das Reger-Gedenkjahr in den Konzertprogrammen wenig Spuren hinterlassen, außer bei den Organisten, die das Werk eigentlich stets geschätzt und gepflegt haben. Mit einem „Reger-Kurzfestival“ unter dem Motto „Max Reger – umstrittenes Genie“ versuchten in Mainz der Bach-Chor und die Hochschule für Musik eine erneute Annäherung.
In seinem Einführungsvortrag zeichnete Birger Petersen, Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik, ein lebendiges Porträt des Komponisten, ließ aber die Frage nach seiner Bedeutung für Musikgeschichte und Konzertleben offen. Deutlich wurde Regers exzessiver Lebensstil: Arbeitswut, Selbstdarstellungsdrang und die starke Bindung vor allem an die Orgel, der je nach Lebensphase unterschiedlich starke Missbrauch von Alkohol, Nikotin und wohl auch Morphium, die extreme Dünnhäutigkeit und die zur Schau getragene Raubeinigkeit, der vorzeitige Tod mit 43 Jahren – eigentlich passt diese Biographie zu einem heutigen Rockstar, nicht zu einem „seriösen“ Klassiker. Dass man zu Regers Lebzeiten noch kein Rockstar werden konnte, liegt natürlich auf der Hand. Doch frage ich mich, ob es nicht die (Selbst-)Stilisierung des Komponisten als (seriöser) Nachfolger der Trias Bach – Beethoven – Brahms und die Fixierung vor allem des Organisten auf handwerkliche Gediegenheit und Virtuosität waren, die seinem Selbstverständnis, seiner Rezeption und seinem Lebensglück im Wege standen. Immerhin war es der Besuch von Wagners „Parsifal“, der in dem 15-jährigen den Wunsch weckte, Musiker zu werden. Sein Kompositionslehrer Hugo Riemann aber war der Meinung: „Bayreuth ist Gift für ihn.“
Wenn diese These stimmt, käme es bei der Interpretation wohl darauf an, das unter dem Notentext verborgene Ausdruckspotential zu entbinden. Womöglich liegt der Fall ähnlich wie bei Brahms, zu dem der Dirigent Paavo Järvi vor einer Weile in einem bemerkenswerten Interview (im Magazin 2016 der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen) bemerkt hat, es fehle den Interpretationen oft an emotionaler Qualität, „wenn Musiker sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen wollen, nichts wirklich riskieren wollen. Sie wollen dann eher die brillante Struktur bei Brahms zeigen. Und das geht meist zu Lasten des Erzählerischen. (...) Wir bemühen uns immer darum, jede einzelne Note mit Leben zu füllen.“ Unter dieser Perspektive betrachtet, war der Kammermusik-Abend der Musikhochschule durchaus aufschlussreich. Sechs Dozenten, allesamt mit Professur, hatten sich zusammengetan, um Regers Streichtrio op. 141 b, die Klarinettensonate op. 107, die beiden Violin-Romanzen und das Flötentrio op. 77 a zu präsentieren.
Das unter dem Notentext verborgene Ausdruckspotential
Eine sehr „brahmsische Anmutung“ hatte das von Benjamin Bergmann (Violine), Claudia Bussian (Viola) und Manuel Fischer-Dieskau (Violoncello) präsentierte Streichtrio: Man spürte starke klangliche Ausstrahlung mit vorsichtig dosierter Emotionalität. Die frühe Violin-Romanze in G-Dur (mit Thomas Hell am Klavier) wirkte erstaunlich eingängig, fast salonhaft, während die spätere (op. 87, Nr. 2) spröde klang und einen nahezu asketischen Verzicht auf Romantisches an den Tag legte, der wie eine Art Selbstzensur von Komponist und Interpret anmutete. Sehr viel direkter ging Felix Löffler an der Klarinette die Sonate op. 107 an. Mit beweglichem Ansatz und der bewegten Körpersprache eines Jazzmusikers oder gar Schamanen entlockte er seinem Instrument ein Höchstmaß an klanglicher Expressivität, das mit dem eher kristallinen Klavierpart aufregend kontrastierte und tiefliegend Unaussprechliches zur Sprache brachte.
Wieder anders lag der Fall beim Flötentrio, dem Dejan Gavric als Bläser lebendigen Atem einhauchte. (Streicher haben es hier naturgemäß schwerer.) Ganz offensichtlich bemühte sich Reger in diesem Werk, das stellenweise an Haydn anzuknüpfen scheint, um einen heiteren Grundton zu erreichen; man kann auch an Szenen der Commedia-dell'Arte denken, wie sie bei Regers Zeitgenossen Busoni („Arlecchino“) und Strawinsky („Pulcinella“) anklingen. Der Komponist scheint hier eine unglückselige (Selbst-) Fixierung auf romantische Ausdrucksästhetik und romantischen Geniebegriff hinter sich zu lassen und fängt an, in Kategorien des Rollenspiels und der Bühne zu denken – den Weg einzuschlagen also in ein eher „objektives“ Musizieren, wie es bald tatsächlich bestimmend werden sollte. Dafür war dann die Mainzer Interpretation aber zu brav; so wurden etwa im Kopfsatz zwei auffällige isolierte Pizzicato-Töne, die nur als musikalische Pointe einen Sinn geben, beiläufig absolviert.
Schwierig, das Phänomen Reger einzuordnen
Anders als beim Kammerkonzert gab es zum gemeinsamen Chor- und Orchesterkonzert von Bachchor, Hochschulchor und Hochschulorchester in der Mainzer Christuskirche auch ein ausführliches Programmheft. Norbert Bolin geizte hier nicht mit Fakten und Hintergrund-Informationen, tat sich aber ebenfalls schwer, das Phänomen Reger einzuordnen. Am Ende zitierte er einen Aufsatz aus dem aktuellen Jahrgang der Zeitschrift „Musik & Gottesdienst“ (Jg. 70, Heft 2); Max Kalipp schreibt dort über den Komponisten: „Er wird häufig mehr als ornamentale Randerscheinung denn als letztes, faszinierend üppiges Aufblühen von Kunst und Lebensgefühl der imperialbürgerlich geprägten Epoche am Vorabend der Katastrophe des Ersten Weltkriegs wahrgenommen.“ Dies ist immerhin eine Perspektive, die dem oberpfälzischen Sonderling eine gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung zugestehen möchte. Es gehören aber dann auch jene Werke in den Blick, die in ihrer satztechnischen Zurücknahme anstelle des Aufblühens schon das Welken der Epoche in den Blick vorwegnehmen. Erstaunlich düster und gedämpft hatte schon vorher die anspruchsvolle Fantasie und Fuge op. 135 b gewirkt, die Orgel-Dozentin Anna Pikulska an der Hochschule im Rahmen von Birger Petersens Vortrag zu Gehör brachte.
Für das Konzert in der Christuskirche am evangelischen Toten- (oder Ewigkeits)-Sonntag hatten die Veranstalter eine bemerkenswerte Dramaturgie entwickelt. Regers schlichter A-capella-Chorsatz op. 138 Nr. 1 „Der Mensch lebt und bestehet nur eine kurze Zeit“ aus den „Acht Geistlichen Gesängen für gemischten Chor“ ging direkt über in das düstere Requiem op. 144 b „Seele, vergiß sie nicht, vergiss nicht die Toten“ für Gesangssolo, Chor und Orchester auf einen Text von Friedrich Hebbel. Während Hochschul-Korrepetior Christian Rohrbach (als Vertreter des erkrankten Bachchor-Leiters Ralf Otto) noch den Schlussakkord des Chores verklingen ließ, gab Orchesterleiter Wolfram Koloseus schon den Einsatz für das kaum hörbare Grummeln der Bässe, über das sich dann fahle, klagende Bläsertöne und -gesten legten. Reger komponierte das „Hebbel-Requiem“ 1915, im ersten Kriegsjahr, nach eigenem Verständnis zur Unterstützung der kämpfenden deutschen Soldaten und wollte es, wie auch sein Pendant „Der Einsiedler“ op. 114 b, erst nach dem erwarteten Sieg publizieren und ausführen lassen. Die nunacierte, atmosphärisch ungemein dichte Interpretation (mit dem Bariton Hans Christoph Begemann als Solisten) ließ aber keinen Zweifel: Es ist, jedenfalls vor 100 Jahren, kaum eine Musik vorstellbar, aus der mehr Angst und Beklemmung der Lebenden spräche - und weniger Trost angesichts des Todes – als dieses Stück. Auch die „Tristan“-artige Nachtstimmung der Eichendorff-Vertonung „Der Einsiedler“ passt so gar nicht in die patriotische Optimus-Welle, die der Komponist bedienen wollte. Dass er die beiden Chorwerke „das Schönste“ nannte, was er je geschrieben habe, zeigt auf erschütternde Weise, wie naiv er selbst den Abgründen der Zeit und seiner eigenen seismographischen Wahrnehmung gegenüberstand. Die Musik ist von hoher handwerklichkeit Qualität, erhaben auch im klassischen Sinne, ausdrucksstark bis ins Hässliche, ja Fratzenhafte, und von schmerzhafter Wahrhaftigkeit – aber nicht „schön“.
Von schmerzhafter Wahrhaftigkeit – aber nicht „schön“
Zwischen die beiden Chorwerke op. 144 hatte das Programm achsensymmetrisch die „Mozart“-Variationen op. 132 platziert, deren Anlage (mit einer in den Wiedereinsatz des Themas mündenden Fuge) Benjamin Britten als Modell für seine Purcell-Variationen „The Young Person's Guide to the Orchestra“ gedient haben dürfte. Man kann dieses Stück als orchestrale und satztechnische „Wundertüte“ gestalten, aber Koleseus und das bestens vorbereitete Hochschulorchester entfalteten auch hier eine fast erschreckende Bandbreite des Ausdrucks. Auf den Weg vom verzuckerten Spieldosen-Mozart über den gehetzten Gewaltritt und wagnerisierende Grübeleien bis zur Flucht ins barocke Ordnungsmodell der Fuge erwuchs ein ausgesprochen spannendes Panorama von Empfindungen und Stilen. Am Ende stand – im nahtlosen Übergang aus dem „Einsiedler“ – das kurz nach Kriegsbeginn entstandende „Nachtlied“ op. 138, 3. Der ruhig ausgesungene A-Capella-Satz strahlte Bitte und Segen zugleich aus, aber die chromatische Linien und tonartlichen Ausweichungen verrieten darunter ein Krisenbewusstein, das uns nach 100 Jahren leider wieder sehr nahegerückt ist.