Vermutlich ist diese „Walküre“ wieder eine Weltpremiere in Sachen Ring-Regie in Stuttgart. Hier entsteht nicht erneut ein Ring-Projekt von verschiedenen Inszenierungsteams, sondern selbst die „Walküre“, als die erste von den drei großen Ringteilen, wurde auf drei verschiedene Teams aufgeteilt. Eine Idee, die nach Stuttgart passt, weil hier vor zwanzig Jahren ein Ring mit vier verschiedenen Regiehandschriften (Schlömer, Nel, Wieler, Konwitschny) ziemlich Furore machte und fortan als Modellfall galt.
Ab da wurde es Mode, beim bedeutendsten Gesamtkunstwerk der deutschen Opernliteratur innerhalb der Tetralogie von Teil zu Teil die szenische Handschrift zu wechseln. Die Oper in Chemnitz trieb dieses Prinzip auf die zeitgeistige Spitze mit vier verschiedenen weiblichen Handschriften.
In der „Walküre“ macht ein Neustart nach jeder Pause nur Sinn, wenn es wirklich einen entschiedenen Wechsel der Ästhetik gibt, ohne dass dabei das Stück als solches unter die Räder dramaturgischer Ambitionen kommt. Diesen – quasi im Raum stehenden – Anspruch erfüllt die aktuelle Stuttgarter Neuproduktion. Wobei der Zusammenhang szenisch dadurch gesichert wird, dass jeder der drei Zugänge tatsächlich ihren Teil der Geschichte für sich genommen wiedererkennbar erzählt.
Vor allem aber, weil es Cornelius Meister mit seinem Orchester gelingt, im Graben (und mit Harfen in den Seitenlogen in der Höhe) mit erzählerischer Lust und detailfreudig ausformulierter Plastizität einen Zusammenhang zu wahren, der obendrein von den ersten stürmischen Noten bis hin zum nur optisch stilisierten Feuerzauber am Ende, die Spannung hält. Hier zelebriert einer nicht jede einzelne Note, hier bekommt man den großen Bogen. Natürlich tragen auch die Protagonisten dazu bei, weil die in wechselnder Gestalt wiederkehren. Dazu kommen einige wirklich herausragende Protagonisten. Das gilt zuerst für Michael König und Simone Schneider als Zwillings- und Liebespaar Siegmund und Sieglinde. Er mit wohldosiert strahlendem Schmelz, sie mit eingedunkelter Vehemenz und mit mühelosen dramatischen Ausbrüchen. Dass die beiden im ersten Akt praktisch an der Rampe festgefroren schienen, erlaubte ihnen die volle vokale Konzentration auf das spannende Wiedererkennen der Geschwister. Für eine atemberaubende Überraschung sorgte Annika Schlicht als Fricka. So glasklar, unnachgiebig, jede Finte ihres Ehemannes in der Krise durchschauend und sich mit allen Mittel (nicht nur ihrer Argumente, sondern auch ihrer körperlichen Reize) durchsetzend, hört und sieht man das nur selten! Für die meisten wagneraffinen Zuschauer im Saal galt diese spürbare Freude an einer erfüllten Erwartung besonders für Okka von der Dameraus bravouröses Debüt als Brünnhilde. Insgesamt fügten sich bei ihr auch die am Anfang etwas eigen formulierten Walkürenrufe in das Porträt der Lieblingstochter Wotans, die mühelos jede Höhe zu nehmen und mit jeder eher zurückhaltenden Passage zu glänzen vermochte. Das war ein Ereignis von Rang! Diese Brünnhilde dürfte bis zum Grünen Hügel zu vernehmen gewesen sein. Goran Jurić kehrte bei seinem Hunding – passend – den Haudrauf raus. Brian Mulligan konnte da als Wotan nicht ganz mithalten. An seinen akzentbedingten Umgang mit den Vokalen mochte man sich gewöhnen, im dritten Aufzug bangte man aber mit ihm, dass ihn seine Durchhaltetechnik bis zum Ende führe. Kann gut sein, dass er einfach nicht seinen besten Tag hatte – das Stuttgarter Publikum war da fair.
Kleinkariert sind sie dort eh nicht. Was die Regie betrifft ist das wohl ein lebendiges Erbteil der Jahre, in denen hier Klaus Zehelein das Sagen hatte. In diesem Sinne ließ das Publikum – mit dezenten, vorhersehbaren Abstufungen -auch das aktuelle Regieexperiment passieren.
Der erste Akt geriet dabei mit dem für Regie, Bühne, Kostüme und Live-Animationsfilm verantwortlich zeichnenden Team „Hotel Modern“ am experimentellsten und wenn man so will opernfernsten. Ihre Methode besteht darin, detailfreudig nachgebaute Landschaften live zu filmen und in der verblüffend perfekt täuschenden Vergrößerung als Film zu projizieren. Die Modelle finden sich rings um eine gerade noch erkennbare Pappesche. Die Projektionsfläche schwebt im Hintergrund wie eine Baumkrone in der Höhe. Das, was das atemlos anhebende Vorspiel „erzählt“, wird mit vor Ort gefilmten, sich jagenden Ratten übersetzt. Wenn Siegmund, Sieglinde und Hunding dann die Szene betreten (um dort nahezu unbeweglich in Rampennähe zu verharren) tragen sie für einen Moment eine Rattenmaske. Für geübte Wagnerianer ist das (gewollt oder nicht) eine Hommage an den gerade verstorbenen Hans Neuenfels und dessen kultigen Ratten-Lohengrin in Bayreuth. Nun ist zwar dauernd von Wölfen die Rede – die Ratten vertreten diese Metaphorik hier so nachhaltig, dass einige davon zwischenzeitlich zerfetzt werden, ein anderes Exemplar aber am Ende im Griff eines Schwertes in Übergröße als säugende Rattenmutter mit zwei Nachkommen auftaucht. Ist das mehr der Triumph einer durchgezogenen Idee, so bietet die Kamerafahrt durch die – für sich genommen perfekt gemachten Ruinenlandschaften eine eigene Faszination und öffnet, wenn zerschossene Fassaden und Panzer in den Blick geraten, Räume, die man lieber geschlossen gehalten hätte.
Nach diesem eher assoziativ experimentellen Akt, dann ein von Urs Schönebaum (Regie, Raum, Licht) geradezu klassisch durchinszenierter Ehekrach (zwischen Wotan und Fricka), nach dem Fricka wie ein Filmstar aus den 30er Jahren triumphierend die Szene verlässt. Und dann mit einer Todesverkündigung, die mit der Faszination einer Lichtdom-Ästhetik und einem Blick in das Innere von Walhall zwischen beweglichen, transparent geflochtenen Säulen einen Gruseleffekt der anderen Art imaginiert. Brünnhilde wie ein Standbild auf einem Sockel, mit dem Lichtrahlenhintergrund wie bei Caspar David Friedrich (Fassung Albert Speer) von Fackeln und Helden-Zombies gerahmt – das macht Eindruck. Dass Wotan am Ende höchst persönlich wie von Sinnen zig mal auf Siegmund einsticht (Zwischenruf: noch mal!) war zwar ein Tick zu viel, aber dass er sich damit selbst verletzte, wurde immerhin klar.
Für den Aufmarsch der Walküren dann wechselt Ulla von Brandenburg (mit Benoȋt Résillot und Julia Mossé) in eine allein von (Wellen-)Form und Farben dominierte Unverbindlichkeit, die vor allem mit ihrer Konsequenz verblüfft. Die Walküren versammeln sich nicht auf einem Felsen, sondern auf beweglichen, wellenförmigen Podien. Die bunten Flächen dahinter changieren ebenso eigenwillig zwischen Öffnen und Schließen wie in diversen Farbspielen. Schön – im Sinne von hübsch – aber sinnfrei. Am Ende leuchtet in der Ferne ein Neonring grell auf und die auf der Welle in Rampennähe einschlummernde Brünnhilde wird als Double in diesen Ring gehievt.
Der mittlere, packende, quasi klassisch durchinszenierte Akt ist also von einem assoziativen Experiment und einer sich selbst kreierenden Form- und Farbspielerei eingerahmt. Das ist sicher keine Stuttgarter Ringinnovation wie die vor zwanzig Jahren. Aber eine aus der Kategorie Warum-nicht-auch-mal-so? ist ja auch schon was. Die Musik und ihre Interpreten ziehen in ihren Bann und die Umsetzung ist zumindest abwechslungsreich.