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Nabucco, Ensemble. Foto: Lutz Edelhoff
Nabucco, Ensemble. Foto: Lutz Edelhoff
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Ausgefuchst dialektisch: „Nabucco“ als verbitterte Sommeroper in Erfurt

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Regisseurinnen und Regisseure lassen sich, inspiriert durch den groben Prankenschlag Giuseppe Verdis in seinem ersten internationalen Erfolg von 1842, von Rostock bis Straubing zu szenischen Gewalteskalationen inspirieren. Temistocle Solera hatte in seinem Textbuch nach dem Schauspiel „Nabuchodonosor“ von Auguste Anicet-Bourgeois und Francis Cornu den alttestamentarischen Stoff über die in babylonische Gefangenschaft verschleppten Juden sehr frei und knapp behandelt. In Erfurt machte Intendant Guy Montavon daraus eine Studie, wie porös und verwundbar die Haut der Zivilisation über dem Fleisch der Antihumanität ist. Keine unbeschwerte Sommeroper also, bei der die hochdramatischen Hauptpartien von der Premierenbesetzung erfreulich gut und stark gesungen werden.

In Italien ist die Wiederholung des legendenumwobenen Gefangenenchors der Hebräer aus Verdis „Nabucco“ eine patriotische Herzensangelegenheit. Auch in Deutschland, zumal bei Openair-Vorstellungen, langen die Chormassen gerne ein zweites Mal zu, sozusagen als Wiederholungsstrophe.

Das ist auch bei den Erfurter Festspielen 2022 so. Die Domstufen leuchten nach den Rainbow-Colours zu Tschaikowskys „Jungfrau von Orléans“ im vergangenen Jahr in Blau und der Dom in Gelb. Zur zweiten Gefangenenchor-Runde entfalten die Singenden blaugelbe Flaggen im Taschentuchformat und man denkt: Aha, Solidarität! Darauf lässt auch die bisherige Meinungsbildung durch die Inszenierung schließen. Die bösen usurpatorischen Babylonier erscheinen in toxischem Schwarz und sogar ihre Damenroben sind wie Panzer. Die Juden dagegen tragen Folkloreweiß und weich fließende Stoffe. Nach dem ersten Akt wird ein Stacheldraht entrollt – der Tempel von Jerusalem verwandelt sich in das Ghetto von Babel. Besonders perfide: Vom Domfundament dampft es wie in den Todeskammern der Vernichtungslager. Aus den Seitenmauern der Ausstattung von Peter Sykora und Norman Heinrich schießen gewaltige Brennstäbe in die Höhe. Da erlaubt sich der Schweizer Montavon ein Menetekel an seinen langjährigen Thüringer Arbeitsort: Das Erfurter Familienunternehmen Topf & Söhne war der „Ofenbauer von Auschwitz“, gab während der dunklen Jahre Arbeit und damit Brot für viele. Erst seit 2011 ist das Firmengelände in Nähe des Erfurter Hauptbahnhofs ein Erinnerungsort an Mittäterschaft im NS-Terror.

Das „Nabucco“-Blatt wendet Montavon in der oft unterschätzten Stretta nach dem Gefangenenchor. In dieser fordert der judäische Oberpriester Zaccaria mit ähnlich schneidenden Tönen, wie sie der assyrische Königs Nabucco in Rache-Gesängen ausspuckt, Jehovas Blitzschlag auf die momentan mächtigeren Feinde.

Das Regieteam gibt sich spätestens ab dieser Szene ausgefuchst dialektisch. Repräsentativer Mittelpunkt auf steiler Höhe der Domstufen ist eine Baal-Statue mit martialischer Heldenmine und schwellenden Muskeln – perfekt modelliert nach ästhetischen Vorlieben vieler totalitärer Systeme des letzten Jahrhunderts. Verdi-Kenner wissen es: Die aus traumatisierenden Frustrationen und viel Liebesentzug zur Kurzzeit-Königin von Babel aufsteigende Abigaille wird von den Trümmern der Baal-Statue erschlagen, als Jehova zur Rettung seines auserwählten Volkes einen Vernichtungsblitz auf diese schmettert. Göttliche Vergeltung und irdische Versöhnung sind in Erfurt aber Fehlanzeige. Die Baal-Statue erweist sich beständiger als das meiste an Verdis Plot. Denn in der hier gespielten und kaum bekannten Fassung gibt es kein ersterbendes Versöhnungssolo für die kurz vor ihrem Nirwana vom Teufel zum Engel mutierende Abigaille, sondern „nur“ das martialische A-cappella-Gebet, mit dem die Juden ihren einzig wahren Gott bejubeln. Als Nabucco nach vorübergehender Geistestrübung den von ihm angerichteten Totalschaden wiedergutmachen und den Stacheldraht deshalb öffnen will, trifft ihn ein tödlicher Schuss. Aus und vorbei ist damit die Hitparaden- und Spaghetti-Oper, hinterlässt in der milden Erfurter Sommernacht einen stechenden Schmerz.

Es mag sein, dass das aus dem 600 Meter entfernten Theater live zugespielte Philharmonische Orchester Erfurt unter der zwar guten, aber auch weichzeichnenden Verstärkungsanlage nicht mit angemessener Härte erklang. Chefdirigent Myron Michallidis läuft paradoxerweise an den wenigen Stellen zur Bestform auf, wo es elegant und elegisch sein darf. Die dramatische Wucht kam von den durch die Bank eindrucksvollen Sängerstimmen. Angemessen erstklassig sangen der Opernchor des Theater Erfurt und der Philharmonische Chor in der Einstudierung von Stephan Witzlinger und Cristiana Fioravanti, wenn auch die größten Personenmassen auf den gigantisch dimensionierten Domstufen wirken wie eine Sozialgemeinschaft im längst begonnenen demographischen Wandel.

Stars waren Brett Sprague, der sich mit der von Verdi bewusst im kleineren Format belassenen hebräischen Prinzen-Rolle des Ismaele zufrieden geben musste, und vor allem Katia Pellegrino als Rabentochter Abigaille. Sie bewältigt die Paradepartie risikofeudiger Belcantistinnen derart furchtlos und sicher, dass sie auch das heikle, ihr leider vorenthaltene Reue-Solo problemlos geschafft hätte. Es war einfach toll, wie sie nach den Intervallsprügen von der Höhe der Baal-Statue bravourös in die Cabaletta einsteigt und im großen Duett mit Nabucco in leisesten Tönen lauten Eindruck macht. Da fanden der zwischen balsamischer und autoritärer Strategie unentschlossene Zaccaria von Kakhaber Shavidze und der bis in die Melancholie seines Gebets an den Gott Judas virile Federico Longhi eine originäre Meisterin. Es liegt nicht an Katja Bildt, dass die assyrische Königstochter Fenena, bis ihr Verdi kurz vor Schluss doch ein feines Solo gewährt, im Machtkampf von Priester, König und Ziehschwester unauffällig bleibt.

Sie alle haben Teil an der eindrucksvollen Darstellung einer harten, mutigen und ungeschönten Sommeroper. In zwanzig Vorstellungen bis zum 7. August 2022 artikuliert dieser „Nabucco“ Zorn und Trauer über jede Art von Gewalteskalation.

  • Besuch der Orchesterhauptprobe in der vorgesehenen Premierenbesetzung am 13. Juli 2022.

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