Wenn eine Grand opéra auf die Raumbühne Babylon trifft, dann steht ein Opernabenteuer ins Haus. Eine mutige und ehrgeizige Exkursion ins Unbekannte. Giacomo Meyerbeers „L’Africaine“ (Die Afrikanerin) ist dabei lediglich der Ausgangspunkt. Stark gekürzt ist sie ohne weiteres als die 1865 uraufgeführte Oper immer noch erkennbar. Geplant ist eine Reise durch die Zeiten, über die Kontinente und Widersprüche der Welt und zwischen Kunst und Leben.
Der Untertitel der ersten Station: „Auseinandersetzung mit den Ahnen“, meinte auch die mit dem ererbten Genre. Es werden im Januar mit (Versöhnung), im März mit (Reinigung) und im Juni mit (Verwandlung) drei weitere Etappen folgen. Dabei werden der Plot vom damaligen Librettisten-Star Eugène Scribe und die Musik Meyerbeers (1791-1864) immer weiter hinter einer gegenseitigen Spieglung unserer europäischen Gegenwart und ihre Verwerfungen mit denen Afrikas zurücktreten bzw. überschrieben.
Jetzt aber zuerst einmal die große Oper. Nicht nur im übertragenen Sinne einer lukullischen Ausschweifung für die Ohren und die Augen. Meyerbeers Werk ist ein Musterexemplar jener Grand opéra, die vor allem im Frankreich des 19. Jahrhunderts vorherrschte. Innovativ war. Aufs ganz große Theater hinaus wollte. Fünf Akte, große Balletteinlagen und ein historisches Panorama. Unter dem ging es nicht. Das passte ins (groß-)bürgerliche Selbstverständnis. Und verschwand dann doch. Nicht nur wegen der puren Ausmaße – Wagner war ja auch kein Freund der kurzen Abende.
Heute sind Grand opéras wie die „Trojaner“ von Hector Berlioz oder Jacques Fromental Halévys „Jüdin“, Meyerbeers „Prophet“ oder seine „Hugenotten“ Gegenstand ehrgeiziger Ausgrabungen selbst mittlerer Häuser. Meyerbeers „Afrikanerin“ etwa machte unter ihrem alternativen Titel „Vasco da Gama“ 2013 in Chemnitz, dann an der Deutscher Oper in Berlin und zuletzt in Frankfurt (in der Regie von Tobias Kratzer, der noch in der laufenden Spielzeit auch in Halle inszenieren wird) ziemlichen Eindruck.
Die Oper Halle hat für ihr ehrgeiziges „L’Africaine“-Projekt nicht nur Mittel der Kulturstiftung des Bundes und mit der Oper Lübeck einen Kooperationspartner gewonnen, sondern auch ein europäisch-afrikanisches Inszenierungsteam um Thomas Goerge, Lionel Somé und Daniel Angermayr eingeladen und alles aufgeboten, was es an bewährter und neu engagierter vokaler Pracht zu bieten hat. Am Ende soll eine „afrikanisierte“ Africaine stehen. Vorerst funken die Afrikaner aber „nur“ per Video dazwischen. Lionel Poutiaire Somé und Abdoul Kader Traoré (Burkina Faso) und Richard van Schoor (Südafrika) fanden bei ihrer Arbeit in Christoph Schlingensiefs Operndorf zusammen. Und tragen jetzt ein Stück von dessen notorisch bohrender Weltoffenheit weiter bzw. an die Saale. Sie deuten in den Einspielern andere Weltsichten an, reden von den Elementen wie Wasser oder Erde. In den Folgeteilen werden sie wiederkommen. Als Möbelpacker der Entkolonialisierung.
Historisierende Kostümopulenz, die einfach Spaß macht
Im Kern aber wird die Geschichte erzählt. Die verbindet eine tragisch endende Lovestory mit einem Zusammenprall der Kulturen. Die exemplarische koloniale Überheblichkeit der portugiesischen (sprich europäischen) Konquistadoren wie Vasco da Gama (und seines Rivalen Don Pédro) trifft auf die genauso rassistisch fundamentalistischen Exoten, die ihrem Gott mit durchgeschnittenen weißen Kehlen huldigen. Bei Ausstatter Daniel Angermayr in einer spielerisch offenen Versatzstückästhetik wie sie zur Raumbühne passt. Und mit einer historisierenden Kostümopulenz, die einfach Spaß macht.
Wobei es schon ziemlich hanebüchen ist, wie flott und pragmatisch Vasco zwischen seiner angebeteten portugiesischen Inès und der exotischen Titelheldin Sélica (die gar keine Afrikanerin, sondern eigentlich eine indische Königin ist, aber was tut’s) wechselt.
Romelia Lichtenstein stellt ihre ganze Erfahrung und Ausstrahlung in den Dienst dieser Sélica und beglaubigt auch darstellerisch die Wandlung von der Sklavin zur Königin und sich am Ende sogar selbst aufopfernden Liebenden. An ihrer Seite ist Gerd Vogel mit seiner ganzen Intensität ein ziemlich fanatischer, priesterlicher Ideologe Nélusco. Inès, Liudmila Lokaichuk, wird als portugiesische Rivalin um die Liebe Vascos bejubelt. Wie sie ist auch Matthias Koziorowski als Vasco da Gama neu am Haus. Er wird – eher durch die Fähigkeit, seine kraftvolle Stimme strahlen zu lassen, als durch eine Demonstration geschmeidiger französischer Eloquenz gerechtfertigt, bejubelt. Mit in sich ruhender Boshaftigkeit überzeugt Daniel Blumenschein als blasierter Vasco-Konkurrent Don Pédro. Der junge Bass Michael Zehe schließlich macht mit seiner Doppelrolle als Großinquisitor und Bramane neugierig auf mehr. Dazu mit bewährter Souveränität: Robert Sellier (Don Alvar) und Ki-Hyun Park (Don Diégo). Der Chor (jetzt unter Markus Fischer) ist in vokaler und spielerischer Hochform, deckt kleinere Partien exzellent ab.
Michael Wendeberg ist am Pult der diesmal wieder aus der Tiefe spielenden Staatskapelle auch in der drastisch gekürzten Version eine Affinität zu Meyerbeers musikalischem Schwelgen anzumerken – und die Musiker ziehen mit. Auch gegen Wagners unfaires Urteil diese Musik sei „Wirkung ohne Ursache“. Die Wirkung gestand er ihr immerhin zu. Über diverse Ursachen: demnächst mehr. Den Auftakt jedenfalls sollten sich weder die Raumbühnen- noch Grand-opéra-Liebhaber entgehen lassen!