Nach zwanzig Jahren seines Bestehens war das Bachfest Leipzig umfangreich wie nie. Die internationalen Interessenbekundungen waren ebenso unerschöpflich wie die Fülle des Programm-Angebots vom 14. bis zum 23. Juni. Hochkarätige und regionale Spitzenensembles, Open Air, Crossover, Exkursionen mit fachkundiger Begleitung, zyklische Schwerpunkte, Fachveranstaltungen. Hier konnte jeder nach seiner Bach-Façon selig werden. Roland H. Dippel berichtet.
In der Regel sind die internationalen Bach-Gäste in Leipzig angenehme Zeitgenossen: Helle Kleidung, häufiger Casual als Business und das Stimmungsbarometer schwankt allenfalls zwischen heiterer Zufriedenheit und innerer Beseligung. Im Jahr Zwei der Bachfest-Intendanz von Michael Maul setzt sich der frische und lockere Zug des boomenden Festivals fort. Das zeigt sich in dem auf die beachtliche Anzahl von 158 Veranstaltungen in 10 Tagen gesteigerten Angebot mit Nachtprogrammen, Begleitveranstaltungen und vor allem der dynamischen Weiterentwicklung bzw. Fortsetzung zyklischer Schwerpunkte.
Auch unter dem Motto „Hof-Compositeur“ gab es vom 14. bis zum 23. Juni mehrere packende Stränge aus dem sakralen Schaffen Johann Sebastian Bachs. War da Platz für Schattenseiten? Kaum. Das Konzept sieht neben Höhenflügen ausreichend Veranstaltungs- und Kunstraum für Entdeckungen und Experimente vor. Es ist ein Aufgaben-Schwerpunkt des Bachfest-Intendanten Michael Maul, Zyklen von Werkgruppen anzubieten, die man in der Regel sonst nur in Einzelteilen erleben kann: Er baut Wege durch Bachs Kantaten-Gestrüpp wie im vierteiligen Zyklus „Weimarer Kantaten“ und man erlebte jetzt bereits im zweiten Jahr Passionen aus Bachs geistigem und regionalen Umfeld. Das Bachfest geht also nicht nur in die Breite, sondern auch gründlich in die Tiefe.
Strahlende h-Moll-Messe
Am Ende aber auch in die Höhe: In dem Amerikaner David Stern fand Michael Maul den Dirigenten, der die traditionell das Bachfest in der Thomaskirche beschließende h-Moll-Messe nicht in der üblichen Aufstellung mit Chor hinter und seitlich des Orchesters, sondern an der Brüstung der Orgelempore durchzog. Nicht mit dem einheimischen Thomanerchor, sondern mit dem von Clemens Haudum brillant einstudierten Tölzer Knabenchor. Das klang prompt und bedingt durch die neue Position strahlender und extrovertierter als in Leipzig gewohnt. Flankiert wurde nach Gastspielen in Shanghai und Paris dieses Chorgeschehen mit einer nicht zur Gänze perfekten, aber von eloquenter Eleganz durchgezogenen Leistung des Ensembles Opera Fuoco. Diese h-Moll-Messe klang am 23. Juni wie ein Versprechen, dass es im kommenden Jahr mit ebensolcher Frische weitergehen wird. Dazu passt auch, dass keine der vorab angekündigten Zahlen zur Besetzungsstärke der Tölzer mit deren Anzahl auf der Orgelempore (ca. 35) in Einklang kam, was die Wiedergabe neben dem italienisch-belcantesken Tenor Andres Agudelo und dem phänomenalen Countertenor Andreas Scholl noch zu beflügeln schien.
Überfülle gehört zum Programm des Bachfestes und aufgrund der oft zeitgleich stattfindenden Veranstaltungen hatte man fast einmal täglich das Gefühl, etwas Glanzvolles oder Relevantes verpasst zu haben. Bei den erlebten Beiträgen macht sich allerdings mehrfach bemerkbar, dass hier eingeladene Ensembles noch einmal bei ihren Gastspielen einen ordentlichen Qualitätssprung schaffen. So war bei der Wiederaufführung von Gottfried Stölzels Oratorium „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ durch die Rheinische Kantorei und „Das kleine Konzert“ unter Hermann Max zu erleben, dass selbst für ein souveränes Fachensemble nach der Premiere (in der Schlosskirche Gotha) noch Ressourcen zur Steigerung existieren. Die zweite Aufführung in der Thomaskirche gelang intensiver, farbiger, pulsierender. Möglicherweise würde das auch bei der Wiederholung der „Markus-Passion“ von Gottfried Keiser, die man für ein Werk seines Sohnes Reinhard hielt, geschehen. Das Ricercar Consort fand im Paulinum nicht zu der angemessenen und möglichen Intensität für ein Stück, an dem sich Bach bei seinen Passionsoratorien orientierte.
Vergnügen
Insgesamt beeindruckte, dass die Hommage für den, so das Motto, „Hof-Compositeur“ Bach vor allem ein Plädoyer für den vernachlässigten weltlichen Vokalkomponisten Bach wurde. Sogar in Konzertkleidung der Solisten wurde die Aufführung von Johann David Heinichens Serenata „La gara degli dei“ (Der Wettstreit der Götter), bestimmt für die Vermählung von Bachs Gönner Friedrich August II. mit Erzherzogin Maria Josepha von Österreich in Dresden 1719, und darauf Bachs Dramma per musica „Geschwinde, geschwinde, ihr wirbelnden Winde“ mit dem quicklebendigen La Folia Barockorchester ein Vergnügen. Zu den Höhepunkten gehörte die szenische Darbietung von Bachs „Jagd-“ und „Schäferkantate“ durch Wolfgang Katschners Lautten Compagney Berlin auf einer langen Tafel durch die Event-Location Kupfersaal. Beim Besuch beider genannten ‚Konzerttheater‘ fällt auf, dass Bach den bockbeinigen und für obszöne Leibesfreuden sehr aufgeschlossene Hirtengott insgeheim sehr sympathisch gewesen sein musste: Ihm teilte er gestisch bewegte Arien zu – wohlgemerkt in Bass- und damit in jener Stimmlage, durch die Bach sonst essentielle menschliche Botschaften artikulierte.
Als Botschafter der Musik versteht sich auch Klaus Mertens (70), der in einem Festkonzert die Bach-Medaille der Stadt Leipzig erhielt. Er wurde begleitet von Ton Koopman, mit dem und dessen Frau Tini Mathot Mertens eine 40-jährige künstlerische Gemeinschaft verbindet, neben der er auch ein umfangreiches Repertoire an Entdeckungen des barocken Sakralschaffens einspielte.
Ein weiterer Glanzmoment war das Gastspiel des Kammerchors Vox Bona Bonn mit der szenischen Realisierung der „Matthäus-Passion“ durch Gregor Horres und Stephanie Koch. Die 2017 herausgekommene Produktion zeichnet sich durch messerscharfe Konzentration, geballte innere Energie und emotionales Leuchten aus. Es gibt im Spiel keine Kreuzigungsszene und diese braucht es auch nicht: Freispruch für Jesus fordernde Demonstranten werden später zur höhnischen, aber nicht schadenfrohen Meute. Die Figuren ringen um Achtung, Erkenntnis, korrektes Handlungsvermögen. Hier ist die Matthäus-Passion eine Darstellung der Unvollkommenheit und der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens. Am Ende hatten viele Zuschauer feuchte Augen. Es gab bewegte, lange Ovationen für den auswendig singenden Chor und ein unter Führung des fabelhaft dramatischem Evangelisten Sebastian Kohlhepp brillantes Ensemble. Das eigene Orchester der Kreuzkirche Bonn hatte man für das Gastspiel allerdings durch das professionelle Ensemble BonnBona ersetzt.
Luxusprobleme
Einen Mangel gibt es allerdings in der Bachstadt Leipzig: Gemessen an der hohen Zahl musikalischer Spitzenereignisse fehlt eine entsprechende Anzahl von Räumen mit ebenbürtig exzellenter Akustik. Der Auftritt des Cembalisten und Artist-in-residence Kristian Bezuidenhout mit Isabelle Faust in einem Konzert mit Bachs Violinsonaten gelangte in der Kongresshalle nicht zu der möglichen Wirkung. Erst die Lautten Compagney entdeckte den besten akustischen Fokus im Kupfersaal, in dem Nuria Rial mit Schätzen für Anna Magdalena Bach nicht ganz an der optimalen Stelle stand. Aber das ist keine Mangelerscheinung, sondern angesichts dieser Konzertdichte ein Luxusproblem.
- Das Bachfest 2020 mit dem Motto „We Are Family“ lockt mit dem nächsten Großprojekt, einer Gesamtaufführung des Choralkantaten-Zyklus in zehn Tagen, vom 11. bis 21. Juni.