Franz Liszt ist im kollektiven Gedächtnis der Musikwelt abgespeichert als umschwärmter Tasten-Löwe, als Dirigent und Pädagoge, als ingeniöser Komponist von hoch virtuoser und klangschillernder Klaviermusik und als Schöpfer groß angelegter sinfonischer Dichtungen. Als Galionsfigur der neudeutschen Schule stand Liszt zudem für einen künstlerischen Fortschrittsglauben, der neue Ausdrucksformen suchte und die Verschmelzung der Gattungen anstrebte. Insbesondere die Literatur band Liszt in seine musikalischen Konzeptionen ein.
Zudem war Liszt ein großer Mäzen und ein Mann, der sich und seine Aura geschickt zu inszenieren wusste. Ein Multi-Tasker also, eine moderne Figur. Dass Liszt sich jedoch auch an der Gattung Oper versucht hat, ist bis heute wenig bekannt. Seine einzige vollendete Oper „Don Sanche“ (1825) wurde in Paris nach vier Vorstellungen abgesetzt, alle seine weiteren Versuche blieben in allerersten Stadien stecken. Bis auf eine Ausnahme: „Sardanapalo“, von dem es einen ersten Akt gibt. Der aber hat seit über hundert Jahren vergessen im Liszt-Nachlass im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv geschlummert. Doch nun wurde dieser erste Akt der unvollendet gebliebenen Oper von der Staatskapelle Weimar unter der Leitung ihres GMD Kirill Karabits konzertant zur Uraufführung gebracht.
In der Weimarhalle ist das Podium dicht besetzt: Die Staatskapelle Weimar tritt mit großer Besetzung an. Sechs Kontrabässe bilden das mächtige Fundament, bei den Blechbläsern sind auch Tuben aufgeboten, im Holz verstärkt ein Kontrafagott die Basis, viel Schlagwerk kommt zum Einsatz und zwei Harfen. Hinter dem Orchester nehmen die Damen des Weimarer Opernchores Aufstellung. Sie kommen bereits im ersten Satz zum Zuge, denn „Sardanapalo“ springt ohne Ouvertüre direkt in die schwüle Szenerie der Handlung: Die Damen verkörpern klanglich Haremsdamen und Konkubinen am Hof des letzten Königs von Assyrien, eben jenem Titelhelden Sardanapalo. Nach wenigen Takten stutzt man: Das soll Musik von Franz Liszt sein? Der Chor singt nicht nur italienisch, auch die Orchestrierung, die belcantistisch beschwingte Behandlung der Chorstimmen und die eingängige, mit sämigen Legati arbeitende Melodik klingen eher wie eine unbekannte Oper von Bellini oder Donizetti.
Auch für den Weimarer GMD Kirill Karabits war diese neue Begegnung mit Liszt eine Überraschung. „Niemand hat gewusst, dass er versucht hat, eine italienische Oper zu schreiben. Das ist ganz neu in der Musikgeschichte, das hat man einfach nicht gewusst, und das wird noch Arbeit für die Musikwissenschaftler bedeuten.“
Karabits hat um jenen ersten Akt von „Sardanapalo“, der nicht abendfüllend ist zwei weitere Werke Liszts aufs Programm gesetzt, den „Huldigungsmarsch“ S 228 und „Eine Sinfonie nach Dantes Divina Comedia“ S 109. Der Dirigent glaubt, dass Liszt mit seinem bislang vergessenen Opernprojekt im Sinn hatte, die traditionelle italienische Oper voranzubringen. „Man kennt die Krise der italienischen Oper im 19. Jahrhundert. Es hat damals irgendwie alles gleich geklungen. Liszt wollte da etwas bewegen, helfen!“
Die Ausgrabung von „Sardanapalo“ verdankt sich dem Musikwissenschaftler David Trippett, der Professor an der Musikfakultät der Universität Cambridge ist und vor vierzehn Jahren, als er noch an der Leipziger Musikhochschule studierte nach Weimar fuhrt, um die Handschrift zu studieren. Die Existenz dieser Handschrift war durchaus bekannt, sie wurde bereits 1910 katalogisiert, aber die Liszt-Forschung hielt sie für lückenhaft, fragmentarisch und zur Rekonstruktion, geschweige denn Aufführung untauglich. Dieses Urteil blieb bis zu Trippetts Sichtung unhinterfragt. Trippett aber schaute sich nur eine Arie genauer an und wunderte sich sofort, dass nicht wenigstens dieses Teilstück schon längst einmal publiziert worden war. Und je länger er sich mit dem Konvolut beschäftigte, desto dringlicher schien es ihm, die 111 Seiten durchgängig komponierter Musik wieder ans Licht zu holen. Zumal dieses Fragment ein Licht auf Liszts Begabung zur Adaption des italienischen Opern-Stils wirft, der ihm zwar als Dirigent und durch das Erstellen von Transkriptionen durchaus geläufig war, den er aber im eigenen Schaffen sonst nicht zu Wort kommen ließ.
Auch Trippett glaubt, dass Liszt mit „Sardanapalo“ ursprünglich die Gattung voranbringen wollte. „Ich glaube, er liebte den italienischen Stil, aber er war überhaupt nicht zufrieden mit dem Zustand der italienischen Oper als Gattung. Er wollte sie modernisieren im Sinne einer neuen Dramatik. Der Weg dahin war die deklamatorische Melodie. In seinem sehr bekannten Aufsatz über Berlioz’ Harold-Symphonie 1855 sagt er, dass es zwei Bahnen der Zukunft gibt in der Musik: Das eine ist programmatische instrumentale Musik, also symphonische Dichtung und die andere ist für ihn die deklamatorische Melodie. Und in „Sardanapalo“ hören wir deklamatorische Melodie und dramatische Musik.“
Warum Liszt die Arbeit an „Sardanapalo“ aufgab, ist bis heute nicht restlos geklärt. Aus seiner Korrespondenz lässt sich schließen, dass er mit dem Libretto des 2. und 3. Aktes nicht zufrieden war, weil es seinen Ansprüchen wohl nicht genügte. Möglicherweise fand der viel beschäftige Liszt auch einfach nicht die Zeit, seine Oper zu beenden.
„Sardanapalo“ erzählt, basierend auf einen Stoff des von Liszt hoch verehrten Lord Byron vom letzten König Assyriens, der zur Genusssucht neigt statt zu kriegerischen Eroberungen. Während die Partie des Tenor-Titelhelden deklamatorisch auftrumpft – Einspringer Airam Hernándes imponiert mit Spinto-Metall und kraftvollem Gestus – ist die Partie seiner Geliebten, der griechischen Sklavin Mirra – Joyce El-Khoury mit silbrig leuchtendem Sopran und differenzierten dynamischen Schattierungen – eher lyrisch und durchaus auch virtuos angelegt. Dann wieder überraschen Passagen, die an den frühen Wagner erinnern mit ihren groß angelegten Crescendi und ihrer reichen Instrumentierung.
Kirill Karabits setzt sich vehement ein für die Partitur und die Staatskapelle Weimar sitzt spürbar auf der Stuhlkante, neben den beiden famosen Hauptrollen steuert auch Oleksandr Pushniak als chaldäischer Priester mit pointiertem Baß Maßgebliches zur rundum mitreißenden Uraufführung bei.
Es ist eine ungemein farbige und melodisch originelle Musik mit reizvollen lyrischen Momenten, aber auch kraftvollen und effektsicheren dramatischen Passagen. „Sardanapalo“ ist eine hoch interessante Ausgrabung, auch wenn Liszt diesen Weg sicher aus guten Gründen nicht weiterverfolgt hat. Womöglich wurde ihm über die lange Zeit der vergeblichen Beschäftigung mit seinem Projekt – in den Weimarer Jahren von 1845 bis 1852, als er endgültig aufgab – auch klar, dass der Trend seiner Zeit sich hin zur deutschen romantischen Oper entwickelte und dass Richard Wagner die Richtung vorgab. Obwohl dieser ihn, seit 1849 informiert über den Plan, ermuntert hatte: „... nun aber rufe ich Dir zu: zeige uns volends den ganzen löwen!“