Den Musikdramatiker Joseph Martin Kraus nannte Haydn „eines der größten Genies, die ich je gekannt habe“, und er hatte sicher nicht Unrecht. Wenn auch Kraus’ auf einem Entwurf des schwedischen Königs Gustav III. basierende Oper „Aeneas in Karthago“ vom Pech verfolgt war, beweisen die wenigen Aufführungen seit 1799 die immense Wirksamkeit und postume Lebensfähigkeit dieser Oper.
Lothar Zagrosek, der die bislang umfangreichste, aber in szenischer Hinsicht von der Fortsetzung der Pechstrecke gezeichnete Stuttgarter Aufführung im Jahre 2006 dirigiert hatte, setzte sich im Berliner Konzerthaus erneut für diese Partitur ein: Triumph, auch für eine ungewöhnliche szenische Umsetzung durch Susanne Øglænd.
Joseph Martin Kraus, im selben Jahr wie Mozart, 1756 in Miltenberg am Main, geboren, und nur ein Jahr nach Mozart gestorben, war Kapellmeister im Dienste des schwedischen Königs und erlebte das (wiederholt als Opernhandlung dramatisierte) Attentat auf Gustav III. bei einem Maskenball aus nächster Nähe. Der unerwartet frühe Tod des Monarchen war dann auch der Grund, warum die für das neue Stockholmer Opernhaus konzipierte Partitur zu Lebzeiten von Kraus nicht mehr zur Aufführung gelangt ist.
Der häufig als „schwedischer Mozart“ klassifizierte Kraus ist wahrlich nicht schlechter als Mozart, aber ganz anders. Seine Tonsprache ist geprägt von dramatischer Wahrheit durch größtmögliche Einfachheit, unter weitestgehendem Verzicht auf Textwiederholungen, getrieben von Emotionalität auf höchster Stufe, mit wirkungsvollen Accompagnati. Treffend in der musikalischen Umsetzung klimatischer Schrecknisse, wie Erdbeben und Seesturm, antizipiert sie „Sturm und Drang“ auch in der Emotionalität der handelnden Personen. In ihrer erhaben schwebenden Lyrik beim Zwiegesang des liebenden Paares schafft sie unvermutet eine ähnliche Stimmung, wie ein dreiviertel Jahrhundert später die Parallelszene in den „Trojanern“, wobei Kraus an Intensität Hector Berlioz’ nicht nachsteht.
Überraschungen zuhauf: lautmalerische Rittmusik, angespannt nervenartige Akzente der Kontrabässe in Didos Abschiedsarie und eine Kampfmusik mit grell instrumentierten, verminderten Akkorden. Eigenartig ist die Klangwirkung mit Laute und Cembalo, sich mischend mit Streichern und zweifachem Holz, vier Hörnern, nebst Donnerblech, Pauken und zwei Trompeten. Die Afrikaner zeichnet Kraus mit einer Janitscharenmusik, als einem der wenigen Bezüge zu Mozart („Die Entführung aus dem Serail“).
Neben dem auf der linken Seite positionierten Konzerthaus-Orchester türmt sich die Szene aus unterschiedlich hohen Blöcken, die mit beleuchteten Fenstern an Plattenbau-Hochhäuser gemahnen (Bühnenbild: Mascha Mazur). Hinter einem Lametta-Schleier ist ein Showsteg für die Toten. Programmatische Texte (beispielsweise im vierten Akt, frei nach Christa Wolf, „Kein Gott. Nirgends“) und assoziative Schwarzweiß-Videos (von Matze Görig) werden auf die Silhouette eines Segels projiziert, mit Meer, Wolken, Möwen und schwankenden Halbmastern beim Seeunwetter und mit kindlichen Doubles des Heldenpaares Aeneas und Dido, die im Programmheft etwas hochtrabend als „Schauspieler“ bezeichnet werden. In der Schlussszene wird die Projektion dann farbig, mit dem blutverschmierten Dido-Double in Bondage.
In der durchdachten Regie von Susanne Øglænd agieren die Sänger mehr oder weniger unabhängig von ihren Klavierauszügen oder Notenpulten. Besonders locker bewegt sich der Tenor Daniel Kirch als Neptun, den Sturm der Wellen selbst mit einem Dirigentenstab dirigierend. Die Götter, für welche der Komponist bisweilen ausnahmsweise die klassische Dacapo-Form wählt, tragen Barockkleider (Kostüme: Gunna Meyer). Von den gegenüberliegenden Seiten des Ranges befetzen sich die Göttinnen Venus (Catriona Smith, mit sauberen Koloraturen) und Juno (leicht forciert Cornelia Horak)
in einem vokalen Zweikampf.
Gesungen wird überdurchschnittlich schön, sauber und textverständlich. Dennoch gibt es die Texte der Gesänge auch als Übertitel, leicht modernisierend verkürzt. Teilweise gestalten die Solisten gleich mehrere Partien, so die Mezzosopran Olivia Vermeulen (Bercé und Iris) und der Bariton Joachim Goltz (Eol/ Siché /Narbal).
Dominik Wortig als Aeneas überbietet seinen Tenorkollegen Daniel Ohlmann (als Rivale Jarbas) an natürlichem Schmelz und warmen Zwischentönen. Simone Schneider ist eine Dido mit dramatischem Pep, nahe gehend in ihrer liebenden Emotion und faszinierend in ihrer Rachearie. Wenn Aeneas nach seinem – dramaturgisch noch deutlich barocker Affektentheorie gehorchenden – wiederholtem Hin und Her Carthago definitiv verlässt, flammt als sein Ziel über dem Auditorium eine Leuchtschrift „Rom“ auf.
Zum Intensiverlebnis dieses „Konzertanten Aufführung mit Szene“ trägt der von der Eberhard Friedrich einstudierte RIAS Kammerchor nachhaltig bei: durch beleuchtet mitgeführte Noten mobil, mal als Herren-Doppelchor auf beiden Seiten der Empore des 1. Ranges, mal durch die geöffneten Türen des Parketts, aus dem Foyer erklingend.
War die Produktion des Staatstheaters Stuttgarter die erste vollständige Aufführung, so hat Zagrosek für seine „Berliner Fassung“ Kraus’ lyrische Tragödie in fünf Akten und einem Prolog doch gestrafft; die Aufführung – mit nur einer Pause – dauert dreieinviertel Stunden. Längen stellten sich dabei aber nicht ein. Das Publikum des ausverkauften Konzerthauses dankte mit emphatischen Bravorufen im ausgiebigen Schlussapplaus.
Einzige weitere Aufführung: 19. März 2011.