Joachim Lange zieht ein Zwischenfazit bei den Händelfestspielen in Halle und Umgebung. Es gab bislang kaum etwas auszusetzen, aber sehr viel Herausragendes zu erleben. So sorgte beispielsweise „Händels konzertanter ‚Arbace‘ beim Publikum in der Ulrichskirche für leuchtende Augen und stehende Ovationen. Eine Sternstunde barocker Unterhaltung.“
Bei den Händelfestspielen in Halle muss man auch nach der Premiere im Opernhaus, mit der sie regelmäßig eröffnet werden, genauer hinschauen, um etwas über Qualität und Atmosphäre zu sagen. Das ist schon der puren Größe (über 100 Veranstaltungen an 22 Orten) und zeitlichen Ausdehnung (17 Tage!) geschuldet. Dazu gehört das Stadtbild: zwar wenig sichtbare Reklame, aber ein umgrüntes Händeldenkmal auf dem Markt als Mittelpunkt und als Geheimtipp wieder der in ein barockes Arkadien verzauberter Innenhof der mittelalterlichen Neuen Residenz gleich neben dem Dom als besonderer Ort des Ausspannens. Aber es ist natürlich vor allem die Programmvielfalt, auf deren Qualität man ganz gut beispielsweise von der Anzahl der gezeigten Opern, der eingeladenen Countertenöre oder Spezialensemble schließen kann.
Von den insgesamt neun Opern gibt es sechs als szenische Produktionen: Peter Konwitschnys Inszenierung von „Julius Cäsar“ und dazu ebenfalls vom Hallenser Opernhaus mit „Berenice“ die Vorjahresproduktion von Jochen Biganzoli. Dazu in der sozusagen historischen Festspieldependance im Goethe Theater Bad Lauchstädt „Il pastor fido“ und „Alcina“, sowie im Bernburger Carl-Maria-von-Weber Theater als Koproduktion mit den Donau Festwochen Strudengau die pastorale Komödie „Atalanta“ in einer Inszenierung von Kobie van Rensburg. Um das halbe Dutzend voll zu machen, können Halle-Besucher einen Abstecher nach Magdeburg unternehmen und (wie die Festspielplaner) die dortige „Serse“-Produktion „mitnehmen“.
Als konzertante Aufführungen kommen noch die Händelbearbeitung von Leonardo Vincis „Arbace“, der frühe Erfolg des Meisters in Italien, seine „Agrippina“ sowie das Pasticcio „Venceslao“ dazu.
Counterparade
Geht es um den spezifischen barocken Glanz, den heutzutage die eingeladenen Countertenöre einem Barockfestival verleihen, dann geben sich neben Lawrence Zazzo und Valer Sabadus bei ihren Konzertauftritten, jede Menge ihrer Kollegen ein Stelldichein. Neben Jake Arditti in der einen Counterpartie der Cäsar-Produktion als Kopf des Pompejus mit den Sextusarien begeisterten in der „Berenice“ erneut Samuel Marino (Alessandro) und Filippo Mineccia, in Bad Lauchstädt sind es Philipp Mathmann und Nicholas Tamagna (in Il Pastor Fido und Alcina), im „Arbace“ Raffaele Pé (Arbace) und Angelo Giordano (Artaserse), in der „Agrippina“ Paul-Antoine Bénos-Djian (Ottone) und Ray Chenez (Naciso). Das ist sowohl quantitativ als auch qualitativ schon beachtlich.
Lawrence Zazzo, Vivica Genaux und Wolfgang Katschner im Konzert
Wolfgang Katschner und die Lautten Compagney Berlin sind Stammgäste der Händelfestspiele. In Bad Lauchstädt gar so was wie das Hausorchester (in diesem Jahr mit „Alcina“ gegen Ende der Festspiele). Wenn Katschner, seine fabelhaften Musiker, Händelpreisträgerin Vivica Genaux und Lawrence Zazzo also eine Mezzosopranistin und ein Altus mit einem geschickt arrangierten Parforceritt durch die Welt barocker Arienbravour antreten und sich auf Duette zwischen dramatisch und besinnlich einlassen, dann kann man da wohl meistens „Gender Stories“ drüber schreiben. Katschner hatte aber den richtigen Riecher – in Halle passte das bereits erprobte Programm besonders gut. Auch als quasi künstlerische Antwort auf die Besetzung der Rollen in Konwitschnys Cäsar.
In der Auswahl für das Konzert (und für die pünktlich dazu erschienene CD) blieb es bei der für die heutigen, nicht auf barock geeichten Ohren, bei der ungewöhnlichen Zuschreiben der hohen Männerstimmen – also der einstigen Kastratenpartien, die sich heute die Countertenöre zurückerobert haben – zu den männlich heroischen Herrscher- oder Heldenrollen. Dass die Kastraten auch Frauenrollen sangen, war dem kirchlichen Bühnenverbot fürs weibliche Geschlecht zuzuschreiben – also eine Referenz an gesellschaftliche Zwänge, an die man bei der Vehemenz ähnlicher Debatten um die Rolle und Wahrnehmung der Geschlechter heute durchaus erinnert wird.
Dass der weltoffene Händel auch seine Zeitgenossen wie Hasse, Porpora oder Lampugnani neben sich verträgt war klar. Und dass die oft auf die gleichen Stoffe zurückgriffen üblich. So glänzten Zazzo und Genaux mit Arien aus verschiedenen Semiramide-, Serse- und Siore-Vertonungen.
Aber im Grunde und für das Charisma des Abends ist es egal, wer da gerade welche Geschlechterrolle einnimmt und ob das mit oder gegen das biologische Geschlecht der Interpreten steht. Ihre Stimmen harmonieren im Duett und sie entfalten ihren eigenen Charme in den Soli. Dabei kam Zazzo mit den akustischen Gegebenheiten der Händel-Halle besser klar als seine Kollegin, die auf seitlicheren Plätzen im Parkett nicht immer „durchkam“. Mit der dritten Zugabe schloss sich der Kreis: Es war das Duett, das Konwitschny ans Ende seines „Cäsar“ gesetzt und Cornelia und Cleopatra zugewiesen hat. Hier natürlich auf italienisch („Son nata a lagrimar“) mit Zazzo als Cornelia und Genaux als Sesto. Gender-Stories halt für ein begeistertes Publikum!
Valer Sabadus und die Akademie für Alte Musik Berlin
Am Pfingstwochenende gab es sie dann wieder – die Festspiel-Überwältigung, das vokale Feuerwerk, die Stimmartistik und die Empfindsamkeit der Spitzencounter! Zuerst begeisterte Valer Sabadus zusammen mit der Akademie für Alte Musik Berlin das Publikum. Mit dem langjährigen HFO-Leiter Bernhard Forck als Konzertmeister an der Violine. Eingerahmt von den Ariodante-Arien „Con l’ali di Constanza“ und dem atemberaubenden „Scherza Infia“ präsentierte Sabadus eine Arien-Auswahl, mit denen die Kastraten Giovanni Carestini und Felice Salimbeni zu ihrer Zeit faszinierten. Bei den mit perfekt kontrollierten Koloraturen und einer bis ins Engelsgleiche entschwebenden Stimme vorgetragenen Arienglanzstücken wetteiferten die Zeitgenossen Caldara, Jommelli, Gluck und Graun mit Händel. Dazwischen drei Sinfonien bei denen die Berliner Barockspezialisten allein die Händel-Halle füllten – ein perfekt gebautes Programm für ein begeistertes Publikum.
Il pastor fido
Nach der Cäsar-Premiere in der Oper in Halle starteten die Festspiele im Goethe-Theater Bad Lauchstädt – wie meistens – mit einer Dosis Hochsommer. Über etwas anderes würden sich die Stammgäste auch wundern. So wie manche Zuschauer über die „moderne“ Bühne, die Georgios Kolios für den Seria-Dreiakter „Il pastor fido“ aus dem Jahre 1712 gebaut hat. Ein nüchternes Hotelzimmer mit Bett, Sessel und Stehlampe und einer Tür ins Bad. Fertig. Dabei war man bei einem Schäferspiel auf naturimitierende Barockkulissen gefasst. Daran erinnern ansatzweise die Kostüme. So wie der Counter Philipp Mathmann als Schäfer Mirtrillo aufkreuzt oder sein Kollege Nicholas Tamagna als Jäger Silvio mit seinem Speer hereinschneit, könnten die auch in einer Produktion zwischen historischen Kulissen mitspielen. Der erste mit einem klaren, aber etwas scharfen Sopran, der zweite mit einem wunderbar timbrierten Alt. Um die beiden schwirren mit Amarilli (Sopranistin Sophie Junker) und Eurilla (in diesem Part der Intrigantin: Rinnat Moriah) zwei Nymphen und mit Dorinda (mit warmem Alt: Anna Starushkevych) eine Schäferin und buchstabieren durch, was Eifersucht, Intrigen und die allfälligen Missverständnisse so anrichten können. Bis sich am Ende (fast) alles dann doch fügt.
Bei diesem heillosen Verwirrspiel muss man den gut lesbaren Übertiteln auf den Fersen bleiben, wenn man den Faden nicht verlieren will. Die Gefühle, um die es eigentlich geht, macht der entscheidende Regieeinfall von Daniel Pfluger aber durchgängig klar. Der Tänzer Davidson Jaconello ist der verzweifelte Hotelgast, dem seine Liebste jede SMS-Antwort verweigert. Seine eindrucksvoll choreografierte Verzweiflung ist die behauptete zeitlose Relevanz von Händels Schäferspiel für die Gegenwart. Ebenen, die sich im Traum, sprich in erotischen Handgreiflichkeiten dann auch mal direkt begegnen. Wir erleben das alte Spiel und das immer wieder neue Leiden an der Liebe gleichzeitig. Als die ferne Geliebte doch antwortet, ist es zu spät – da liegt er erschossen auf dem Bett, während sich an der Rampe alle – ganz lieto fine gemäß – in den Armen liegen.
Martyna Pastuszka (als Maestra di Capella) und Marcin Świątkiewicz (als Maestro al cembalo) inspirieren die Musiker des 2012 in Kattowitz gegründeten Ensembles mit dem originellen Namen „{oh!} Orkiestra Historyczna“ zu einem munteren und allseits bejubelten Händel-Festspielauftakt im Goethe Theater!
Atalanta als Ausflug in ein Arkadien von heute
Im Carl-Maria-von-Weber-Theater in Bernburg gab es Händels „Atalanta“ (1736) in einer Inszenierung des längst als Regisseur etablierten Sängers Kobie van Rensburg in dem von ihm perfektionierten Inszenierungsstil. Schon in Chemnitz mit einem hinreißenden Rindaldo auch bei Händel erprobt, agieren die Sänger dabei (wie im Fernsehstudio) vor einer blauen Wand während sie auf einer Leinwand parallel dazu in einem passenden Ambiente erscheinen. Arkadien wird im Falle von „Atalanta“ zu einem luxuriösen Feriendomizil samt Partnervermittlung! So lässt sich aus der Szene und den flott bis zu „Friede Freude Eierkuchen“ modernisierten Übertiteln ein unterhaltsames Ganzes machen.
Bei dem vergnüglichen Schmankerl, das Händel übrigens innerhalb von drei Wochen komponiert hat, geht es um ein Kennenlernen unter falschen Vorzeichen aber in der „richtigen“ Kombination. Also genau das Richtige für einen Nachmittagsausflug nach Bernburg. Musikalisch hinterließen hier das L’Orfeo Barockorchester unter Leitung von Michi Gaigg und bei den Solisten vor allem Sopranistin Marelize Gerber den stärksten Eindruck beim Publikum, das mit dieser Art von Videos kein Problem hatte.
„Arbace“ – ein mitreißendes Glanzstück
Den Kastraten Carestini (dessen Arien Valer Sabadus in seinem Konzert auf den Fersen war) hatte Händel übrigens als Verstärkung engagiert, als ihm in London die Konkurrenz der Adelsoper zu schaffen machte. 1733 zog er alle Register und bearbeitete u.a. Erfolgsopern des von ihm geschätzten Leonardo Vinci (1690-1730). Neben der „Semiramide“ (2015 in Bad Lauchstädt) auch „Arbace“ als Pasticcio-Oper nach Vincis „Artaserse“. Der machte bei seiner spektakulären Wiederentdeckung Furore, weil alle Rollen mit Countertenören der Spitzenklasse besetzt waren: Jarousski, Sabadus, Cencic, Fagioli und das gleichzeitig!
Der konzertante „Arbace“ (der Titel deutet auf eine Akzentverschiebung vom Königssohn Artaserse auf dessen verleumdeten und bedrängten Freund Arbace) sorgte beim Publikum in der Ulrichskirche nicht nur für leuchtende Augen und stehende Ovationen. Diese Sternstunde barocker Unterhaltung wird von Deutschlandradio Kultur am 29. Juni 2019, 19.05 Uhr übertragen – eine gute Wahl! Wer den Text mitlas, verfolgte hinter dem hinreißenden Arienfeuerwerk einen historischen Politthriller in der Folge der Ermordung des historischen Perserkönigs Xerxes (465 v. Chr.). Raffaella Milanesi (Sopran) und Benedetta Mazzucato (Alt) auf der einen Seite und die beiden Counter Raffaele Pé (mit dramatischer Verve) in der Titelpartie und Angelo Giordano (mit einschmeichelnd timbriertem Sopran) – beide aus der Kategorie: „wird man sich merken müssen“ – teilten sich die sechs Partien und brillierten gleichermaßen allesamt! Dazu das 1997 gegründete italienische Barockmusik-Ensemble „Auser Musici“ unter Leitung von Carlo Ipata! Das war höchstes Festspielniveau – kann gut sein, dass es sogar der musikalische Höhepunkt des aktuellen Jahrgangs war.
„Agrippina“ auch konzertant ein Intrigenthriller
Nach Arbace gab es auch noch Händels oft gespielte „Agrippina“ in der Ulrichskirche. Mit allen klimatischen Vorzügen und akustischen Nachteilen des alten Gemäuers, die die Konzerthalle hat. Auf dem Podium die Musiker des seit seiner Gründung 1991 längst an der Barockweltspitze etablierten Ensembles Les Talens lyriques mit Christophe Rousset am Pult, als das er sein Cembalo mitnutzte. Die machten gleich aus der Ouvertüre ein barockes Faszinosum. Dazu eine handverlesene Auswahl von Interpreten:
Der charismatischen Ann Hallenberg gelang es auch konzertant, der berühmten römischen Intrigantin Agrippina neben der vokalen Verve (allerdings ohne sich zur Furie aufzuschwingen) eine darstellerische Note zu verpassen. Selbst wenn man den Text nicht mitliest, war stets klar, wer hier das Heft (bzw. den Fächer) des Handelns in der Hand hatte. Mit dunklem, gleichwohl zu dramatischer Zuspitzung fähigem MEZ war Ève-Maud Hubeaux jener Sohnemann Nerone, den seine ehrgeizige Mutter unbedingt auf dem Thron ihres Mannes Claudio installieren will. Arnaud Richard steuerte mit einem so kernigen wie flexiblen Bass jenen Claudio bei. Er bleibt der Spielball seiner Gattin. Der Counter Paul-Antoine Bénos-Djian war das hinreißend geschmeidig singende Intrigenopfer Ottone. Claudio hatte ihm den Thron versprochen, aber Ottone verzichtet und nimmt stattdessen lieber Poppea (in dieser Opernversion der Geschichte jedenfalls). Mit dieser Partie hat es Eugénie Warnier gar nicht so leicht, sich in dem Ensemble zu behaupten. Als Marionetten der Agrippina gehören noch der Bariton Etienne Bazola und der geschmeidige Counter Ray Chenez zum intriganten Personaltableau – der smarte Bass Douglas Williams stärkt dem Kaiser als Diener den Rücken.
Das ist ausgewogen besetzt und maßvoll gekürzt. Händels – ziemlich schnell komponierter Thriller, mit dem er 1709 in Italien seinen Durchbruch als Opernkomponist verbuchen konnte, bietet in den über vierzig Arien jedem den Raum, um sich ins rechte Licht zu setzen. „Viva il caro Sassone!“ sollen die Venezianer oft dazwischengerufen haben. Die ahnten wohl, was da noch kommen würde.
Adieu „Berenice“
Wie eine passende Sängerbesetzung samt funkelndem Counterglanz (Halle-Entdeckung Samuel Mariño und Filippo Mineccia in Höchstform!) und der exzessive Einsatz von Videos zusammengeht, das war zum allerletzten Mal mit „Berenice“ in der Oper in Halle zu erleben. Eine Inszenierung mit jenem Suchtfaktor, den man jeder Händelproduktion wünscht.