An der Oper in Frankfurt mag man es theaterwirksam bis opulent und gescheit. Was keine schlechte Mischung ist. Gerade für den „Rosenkavalier“. Und für die erste Inszenierung der Komödie für Musik nach jener von Ruth Berghaus vor über zwanzig Jahren. Da sich heuer Claus Guth und Christian Schmidt das populäre Werk von Hofmannsthal und Strauss vorgenommen haben, durfte man wiederum auf diese Melange wetten: auf ein so metaphorisches wie wiedererkennbares Stiegenhaus und Interieur. Und auf eine psychologische Tiefenlotung und perfekte Personenchoreografie.
In Wien war das sich stets kongenial ergänzende Team beim „Tannhäuser“ auch schon in dieser Richtung unterwegs. Vielleicht saßen sie damals auch mal im Café Sperl. Christian Schmidt jedenfalls hat seiner neuesten, recht pompösen Treppenhaus- und Korridor-Variante eine gehörige Portion dieses Wiener Nobel-Cafehauses verpasst. Herausbekommen ist diesmal eine Mischung aus Sanatorium und Hotel. Mit Zauberberg-Fluidum mitten in der Großstadt. Vertäfelte Wände mit meterhohen Bogenfenstern. Durch die am Morgen schon ein ahnungsvolles Abendlicht fällt. In der Mitte, auf der Drehbühne, ein wuchtiger Würfel. Auf der einen Seite ein Fahrstuhl mit moderner Tür aber altem Etagenanzeiger oben drüber und verwittertem Spiegelcharme innen drin. Auf der Rückseite eine steile Marmortreppe. In den oberen Etagen mit Teppichbelag; hinab in den Beisel-Keller dann ohne. An den Seiten jeweils eine üppige Sitzgruppennische.
Hier residiert Marie Theres von Werdenberg. Als besondere Patienten. Wohl mit einer Krankheit zum Tode hin. Aber in der Luxusklasse mit ausführlicher Erinnerungstherapie. Ans Leben und an die Liebe. Das morgendliche Levre ist hier kein wüster Tumult, sondern ein ganzes aufgeteiltes Vormittagsprogramm der Leitung des Hauses in verschiedenen Räumen. Hier hat der Sänger (Mario Chang) Pult, Bühne und Publikum. Der Friseur und der Notar ihr ruhiges Plätzchen. Durchs Haus geistert die Marschallin auch im zweiten Akt, der vielleicht im Mezzanin bei Faninals spielt. Diesen Brautvater (Dietrich Volle) überzeichnet Guth allzu sehr in die parvenuehafte Geschmacklosigkeit im Format der Geissens. Mit geföhnter Grauhaarmähne, Angeber-Rollex und Rüschenhemd. Während der Ochs zwar ein großkariert herausgeputzter Grobian und Grabscher ist, aber nix dabei findet, weil er halt ist, was er ist. Für die Beisel Intrige ist im Keller des Hauses der rechte Platz. Morbide ist dort ohnehin.
Doch die ganze Therapie freilich nützt der Marschallin nichts. Sie lebt in einem Totenhaus. Sieht sich als Kind und als alte Frau. Vor allem aber wie das Personal für einen Moment tot zu Boden geht. Ihr Alptraum vom Beginn, bei dem sie selbst tot am Boden liegt und sich eine Trauergemeinde aus dem Fahrstuhl nähert, wird am Ende wahr. Octavian und Sophie entschwinden kurz zuvor im Fahrstuhl nach oben. Vielleicht ins Leben. Mohamed und ein kleines Mädchen holen sich aber als szenisch musikalische Pointe kein Taschentuch, sondern das kindliche Alter Ego erschrickt, als es bemerkt, dass die blasse Frau nicht schläft, sondern tot ist.
Den vielen, auch betont melancholischen aktuellen Rosenkavalier-Inszenierungen hat Claus Guth eine der düstersten beigesteuert. Bei ihm kommt der Verzicht der Marschallin nicht aus Einsicht in das Wirken der Zeit als „ein sonderbar Ding“. Diesmal mündet jedes Leben (und Lieben) unweigerlich in den Tod. So schmerzlich und düster bekommt man das sonst nicht vorgeführt. In der atmosphärischen Dichte ist das ergreifend. Erträglich bleibt es durch den feinen, en miniature choreografierten Humor, der gleichwohl immer mitschwingt.
Sebastian Weigle versucht zwar nicht, den Über-Thielemann in Sachen Raffinesse und Klangopulenz zu geben, aber der straussversierte Frankfurter GMD stellt sich mit seinem Opern- und Museumsorchester höchst sensibel auf seine Protagonisten ein und lässt ihnen den Vortritt beim Parlieren und vokalen Brillieren. Die exzellente Besetzung auch der kleinsten Nebenrolle ist an der Oper Frankfurt seit Jahren ein Markenzeichen. Und wenn es sich ein vorgesehener Ochs (wie Clive Bayley) anders überlegt, dann steuert eben Bjarni Thor Kristinsson Nobelesse und beste Hofmannsthal-Diktion auf. Bei Amanda Majeskis Marschallin wird jeder Anflug morbider Zerbrechlichkeit Teil einer beklemmenden Diagnose. Christiane Karg ist eine hinreißend klare, mädchenhaft selbstbewusste Sophie. Paula Murrihy ein blendend jungmännlicher Octavian ohne jede Hosenrollenpeinlichkeit mit exzellentem schauspielerischem Witz.
Hatte Harry Kupfer in Salzburg den Rosenkavalier noch so blank poliert, dass er wie eine lichte Morgengabe vor dem Ausbruch der Moderne daherkam, und sich Brigitte Fassbinder in Baden-Baden gerade mit einer second hand Modernisierung heraus zu reden versuchte, so forscht Claus Guth in Frankfurt nach den verborgenen, dunklen Seiten der Melancholie.