Eine Oper über die abgründige Triebmacht der Liebe. Musiktheater, das noch einmal Eros auf Thanatos buchstabiert, das sein Personal aus dem antiken Mythos bezieht und doch ganz von heute sein will. „Kirke, die Sirenen, Odysseus – das sind Namen. In Wahrheit sind wir es selbst, die in den Konflikten von Liebe und Verrat, Abschied, Begehren, Sehnsucht und Todesdrift schier unterzugehen drohen.“
Rolf Riehm, wie sein herumirrender Held Odysseus seinerseits ein „vielerfahrener Mann“, hat einen Vorteil: Wenn er an Mythos denkt, denkt er nicht an „Märchen aus uralten Zeiten“. Mit seinem Helden ist er sich einig darin: Ist dies alles doch durchaus fantastisch – Frauen im Bund mit Zauber und Magie, Frauen mit Frauenkörpern oben und Fischkörpern unten – was die Kirke, was die Sirenen da mit ihm anstellen, was sie verhandeln und wovon sie handeln, vor allem: was sie treibt und umtreibt, eben den Übergang vom „Begehren“ zum „Vernichten“ – dies gehört ganz und gar uns.
Es ist dieser Anspruch, an dem Riehm gemessen sein will. Und gemessen daran, darf man, was die musikalische Seite des Frankfurter Erstlings angeht, einen fulminanten Erfolg bilanzieren. In Martyn Brabbins am Pult des Frankfurter Opernorchesters hatte Riehm den exzellentesten Bündnispartner, den er sich nur wünschen konnte. Die ganze Komponistenpower, die Riehm in die Rache- und Verzweiflungsarien der Kirke und der Sirenen wie in seinen brausenden, klopfenden Orchestersatz gelegt hatte (unter kluger Verwendung älteren sirenen-tauglichen Materials!) – dies alles schaufelte Brabbins aus dem Graben und warf es uns vor die Füße.
Einen ganzen Abend lang den Heldentod sterben – toll!
Schon gleich zu Beginn, wenn wir nach unendlich langsam verklingendem Fortissimoschlag (gerade ist Odysseus auf offener Bühne vom eigenen Sohn Telegonos mit dem Speer durchbohrt worden) Ohrenzeuge der Klage einer verlassenen, zum Äußersten entschlossenen Frau werden: Tanja Ariane Baumgartner lässt die Kirke auf ihrer onomatopoetischen Insel Aiaia aufheulen als sei sie es, die jetzt am Spieß steckt. Nebenbei, auch dies lernen wir an diesem Abend noch einmal: Frauen leiden, aber eher hysterisch, wenn’s drauf ankommt. Jedenfalls nicht so theatralisch wie uns dies Michael Mendl vorzuführen meinte, das im Vorfeld vom Frankfurter Boulevard so über den grünsten Klee gelobte sprechende Double für den singenden Lawrence Zazzo in der Rolle des Odysseus.
Einen ganzen Abend lang den Heldentod sterben – toll! Dabei ist ja nicht dies das Grauslige, dass Odysseus stirbt, noch nicht einmal, dass er durch die Hand seines Sohnes stirbt, vielmehr dass dies alles mit der Präzision eines Uhrwerks nach dem Plan der Kirke abläuft. Eben der, die der Held am Ende einfach sitzen lässt, um damit den Umschlagspunkt von „Begehrens“- in „Vernichtens“-Energie auszulösen. Sowas hat Folgen.
Welcher Art, konnte man an diesem Abend vor allem in der Musik hören. Dann etwa wenn Riehm den Sirenen ihren dritten Auftritt verschafft und ihren Heulgesang ganz ins Orchester legt. Es ist die Stelle, wo Odysseus von seiner Vorbeifahrt an den Sirenen erzählt – er am Mast festgebunden, die Mannschaft mit verbundenen Ohren an den Riemen. Ein Moment, in dem das gesamte Opernhaus auf einmal mit im Boot war, das sich da durch die Ägäis arbeitete. Das Rauschen der Wellen, das Sirenen-Rufen und -Schreien im Riehmschen Orchestersatz verdichtet. Ein beklemmender Höhepunkt.
Was indes die Frankfurter Szene anging, so kamen all die Umschlagsmomente, die verdichteten Verzweiflungsknäuel so unvermittelt daher, zumal aus so großer Assoziationshöhe oder Erinnerungstiefe, dass die Regie um Tobias Heyder zuweilen schier überfordert schien. Etwa wenn es darum ging zu zeigen, dass Odysseus’ tapfer durchgestandenes Nicht-Erliegen den Sirenen den Tod bringen soll. Dafür ließ Heyder die Schönen von ihrer Schautreppe herabsteigen, auf der sie als antikisierende Barbiepuppen so ausgiebig posieren durften, um sie in langatmigen Zeitlupeneinstellungen als Greisinnen über die Bühne humpeln zu lassen. Das war ebenso holprig wie wenn Klein-Telegonos mit Schild und Schwert aus dem Schrank hüpfte und schon mal zu Üben begann, wie er später den Vater zur Strecke bringen sollte. Dabei war doch klar: Nicht dies, nicht der Akt des Zur-Strecke-Bringens stand für den Komponisten im Focus, sondern die Energie, die eben dies auslöst und die Riehm (in sympathischer Künstler-Einseitigkeit) ganz in der Geschlechterspannung verortet.
Ein großes, ein weites Tummelfeld, das Rolf Riehm in diesem musiktheathralischen Alterswerk abgesteckt hat. Weit genug jedenfalls für lohnende Folgeversuche. Wobei (um ausgerechnet dies hier nicht untergehen zu lassen), es ist die von Heyder gefundene Schlusseinstellung, die im Gedächtnis bleiben wird. Kirke vorn an der Rampe, den Abschiedsgesang ihres Odysseus im Ohr. Gesicht und Körper sagen: Was jetzt kommt, ist das Alleinsein. Sämtliche Energieniveaus ausgeglichen, aufgerieben zur Entropie der Geschlechter. Der Schluss, wie der Anfang, geht deshalb ohne Musik.