Nach Berlioz und Gounod sollte eigentlich Schnittkes „Historia“ die „Faust“-Trilogie des Regisseurs Keith Warner an der Semperoper Dresden vollenden. Doch dann entschied man sich für „Doktor Faust“ von Ferruccio Busoni, der mit einer Bearbeitung des Puppenspiels die Nähe zu Goethe entgehen wollte. Jetzt kam die Oper erstmals nach 1925 am Uraufführungsort heraus.
Anstelle der mit Zustimmung von Busonis Witwe vollendeten Fassung von Philipp Jarnach spielte man die Fassung von Anthony Beaumont (1984) mit dem von Busoni geplanten Schluss. Faust vermacht Seele und Streben seinem Kind, so mildert er seine höllische Verdammnis. Wieder einmal erweist sich das Werk als hochgradig schwierig.
Diese Schwierigkeiten, die Busonis „Doktor Faust“ an den ehrenvollen Rand des Repertoires drängen, liegen nicht an der Fragmentform, sondern daran, dass das Werk für Interpreten und Hörer allenfalls vage Sinnspitzen liefert. In der Beaumont-Fassung wird der gedankenschnelle Teufel Mephistopheles zunehmend unwichtig. Faust ist mehr Anarchist und Abenteurer als Gelehrter, zum Philosoph wächst er erst in den beiden letzten Bildern. Der farbige Bariton Lester Lynch bringt alle Seelen des Draufgängers in die ihn zugewiesenen Aufgaben als Renaissance-Ikone, Glücksritter und schließlich als gestrandeter Verdrossener. Er rückt mehr die vokalen Herausforderungen des Riesenparts ins Zentrum seiner Interpretation als die dramatische Zerrissenheit. Dafür wird Lester Lynch neben der unter dem Essener GMD Tomáš Netopil in der antiromantischen und freitonalen Partitur glänzenden Staatskapelle am meisten gefeiert.
Immer wieder lässt Tilo Steffens die historischen Säulen in seinem meist dunklen Bühnenraum hochziehen. So schafft er Platz für Keith Warners aufflackernde und ebenso schnell verbrennende Ideen. Vielleicht ist das sogar Prinzip, um die kaum plausibel zu machenden Stationen in Busonis Faust-Panorama zu meistern.
Mehr oder weniger inspirierter Bewegungsmotor wird Karl Alfred Schreiners Choreografie für sechs junge Frauen und Männer, die aus Fausts esoterischen, erotischen und exegetischen Abenteuern ihre Moral und literarische Nutzanwendung ziehen. Doch welche? Das Tanzensemble, dem es vor Magie und verlorenem Wissen offenbar schaudert, bleibt eine unterhaltende, aber kaum sinnstiftende Erweiterung.
Und überdies entzaubert es noch das von Busoni eingeforderte Wunderbare. Faust schlüpft bei Empfang des Zauberbuchs aus seinem prunkvollen Renaissance-Ornat. Magie wird zum Event aus dem Laptop, mit dem der zum heutigen Medienvirtuosen verjüngte Faust die Geister beschwört. Alsbald sind sie alle da, die stummen Größen von Albert Einstein bis Che Guevara und werfen sich wiederholt in Pose. Möglicherweise hätte der Abend mit Vertrauen auf die Farbfülle der früheren Faust-Quellen mehr Fahrt bekommen: Alle Versuche, den Teufelspakt als parallelen Wissensdurchbruch von Humanismus und Silicon Valley zu deuten, führen in die Sackgasse. Leider lässt Keith Warners auch die anfängliche Gleichsetzung von Faust und Mephistopheles als zwei Teile einer Person schnell fallen.
Mark Le Brocq ist ein reifer Mephistopheles mit kurzer Höhe, dessen tänzelnde Schrittfolgen Diabolik verhindern und doch nicht wirklich clownesk sind. Immer wieder erweisen sich die Solisten im Lauf des Abends als gebremst durch Busonis wenig freundliche Stimmführung: Manuela Uhl kann wie ihre Rollenvorgängerinnen als am Hochzeitstag verführte Herzogin von Parma also kaum Meriten zeigen. Michael König als Herzog, Sebastian Wartig als Bruder des verführten Mädchens und Michael Eder als Wagner kommen nicht recht an den Kern ihrer sonstigen Möglichkeiten. Auch die drei Krakauer Studenten erhalten von Busoni keine Gelegenheit zur Profilierung. Da sind die musikdramatischen Angebote Hindemiths in „Mathis der Maler“ – nicht nur Dietrich Fischer-Dieskau hielt dieses in Dresden erst 2016 meisterhaft erstaufgeführte Werk für ein Zwillingsstück zu „Doktor Faust“ – viel zwingender und für Sängerdarsteller auch weitaus ergiebiger.
Julia Miers Kostüme für die beim Feiern und Fummeln gleichermaßen zurückhaltende Festgesellschaft und die Caféhaus-Schlacht der Studenten trägt nicht für die versuchten Doppelgesichtigkeiten. Bei Fausts Beschwörung von Salome und Johannes mag man schon gar nicht an eine Assoziation zum 1925 schon voll als Strauss-Zentrum aufgeblühten Uraufführungsort denken. Und zu den Disputen der Studenten, die mit dem „Feste-Burg“-Choral auftrumpfen, sind die virtuellen Zeitsprünge dank der vom Chor mit seinem Leiter Jörg Hinnerk Andresen vital genommenen Forte-Attacken bereits vergessen. Anders als etwa in Martina Vehs Erfurter Inszenierung von Kirchners Oper „Gutenberg“, die Busonis Entwurf weiterdenkt, kommen die Analogien zwischen der Wissensexplosion Fausts und der heute kaum in ein szenisches Spannungsgefüge: Der in eine existenzielle Krise abstürzende Faust entsorgt vor seiner Apotheose den Prunkmantel in der Mülltonne und holt ihn wieder heraus. Am Ende lesen die Tänzer in Büchern. Nach diesem ehrgeizigen Dresdner Versuch werden Erfolgsdurchbruch und zündende Publikumsfreude leider wieder auf den nächsten Großeinsatz für dieses sperrige Werk vertagt.