„Carmen“ von Georges Bizet ist nicht irgendeine weibliche Opernfigur, die Mezzosoprane gerne singen. Das 1875 entstandene Werk von Prosper Merimée und Georges Bizet erzählt von einer der berühmtesten und herausforderndsten Frauengestalten der Opernliteratur. Die Oper ist die meistgespielte der Welt, „die Oper schlechthin“ (René Leibowitz), ein „Meisterwerk der Grausamkeit“ (Henry de Montherlant).
Die Vehemenz, mit der Carmen ihre Freiheit und Unabhängigkeit fordert, gleichzeitig das verführerisch Weibliche gekonnt einsetzt, reizt Regisseur*innen und Sängerinnen immer wieder. In Bremen hat sie nun die iranische Sängerin Hasti Molavian zu einer noch wieder ganz anderen Sichtweise provoziert: in Molavians Emanzipation vom Aufwachsen im Iran, einem Land, in dem Musik und gar von Frauen verboten ist, traf sie immer wieder auf Carmen, die ein bestimmtes Bild von Weiblichkeit gelernt hat, es aber einsetzt für den Schrei nach Lebensglück und Unabhängigkeit.
Die 1988 geborene Hasti Molavian wollte und suchte das verbotene Singen, ging dazu zunächst an die Folkwang-Hochschule in Essen und ist heute engagiert am Volkstheater Wien. Aber ihre künstlerische Persönlichkeit suchte mehr als westliche Engagements. Unter der Regie von Paul Georg Dittrich hat sie ihre Kindheit aufgearbeitet und dafür die Konfrontation mit Bizets Carmen gesucht. Der Abend „Ich bin Carmen und dies ist kein Liebeslied“ ist also keine weitere Interpretation der berühmten Oper – und den Anspruch stellt die Produktion auch gar nicht –, sondern eine reflektierende, atemberaubend präsente Performance über das Leben von Hasti Molavian.
Und was für eine! Zunächst einmal wurden Corona-Voraussetzungen bestens umgesetzt: kein Orchester, sondern eine Mischung aus Verfremdungen der Bizet’schen Musik, persischen Traditionen des Komponisten und dem Einsatz eines „sensorischen Handschuhs“, mit dem Töne je nach Bewegung vollkommen verzogen und verfremdet werden können. Der Komponist und Pianist Tobias Schwencke und der Komponist und Elektroniker Christian Scheuer sitzen links und rechts auf der Bühne. Keine weiteren Personen, Don José und Escamillo sind nur verfremdet zu hören (es ist die Stimme von Molavian); Carmen macht alles Furchtbare ganz alleine durch.
Nachdem sie auf einem weißen Auto sozusagen akrobatisch geturnt hat, zieht sie ein Schwert und wir wissen: Diese Frau wehrt sich, sie wird sich nichts gefallen lassen. Und dann tobt sie regelrecht durch 90 Minuten, erzählt von ihrer Kindheit, von ihrer in einem Müllsack versteckten Geige, von einem Maulbeerbaum, von ihrer Sehnsucht nach dem Singen. Sie erzählt aber auch explosiv von der Lebensfreude ihrer Heimat, einem in Fackeln getunkten Bericht über das persische Neujahrsfest. Und im Prozess der Aufführung gelingt mit der fantasiereichen Unterstützung des Videokünstlers Kai Wido Meyer Molavians immer stärkere Annäherung an die Opernfigur, für die es mehrere Höhepunkte gibt: die Seguidilla, die Habanera mit ihren so unterschiedlichen Stilebenen wie der persische Sprechgesang Naghali oder auch ein Brecht-Weill’scher Ton, das Todesmotiv im Kartenquintett, aber auch das Schlussduett.
„Ich übermale Dein Gesicht mit meinen Träumereien, gebe meine Lügen dazu, alles, was mich trösten kann“, hat Molavian im Vorfeld gesagt, grenzenlos scheinen ihre Fähigkeiten, den „Ton“ zu wechseln: Die Probenberichte wurden in der „Deutschen Bühne“ abgedruckt und noch auf den Homepages von Molavian und Dittrich zu lesen, eine mehr als spannende Lektüre, auch nachzulesen im Online-Magazin auf www.theaterbremen.de.
Ovationen belohnten diese wahrlich unter die Haut gehende Aufführung, die es mit ihrem offenen Ende tatsächlich schafft, aus der privaten, ja intimen Auseinandersetzung der Protagonistin mit der Opernfigur eine Verbindlichkeit herzustellen: Das geht uns alle an. Nur noch eine Wiederholung 24.2.2022 um 19:30.