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Foto: © Marcus Lieberenz
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Liebe in Zeiten des Organhandels – „Carmen“ an der Deutschen Oper Berlin

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Sieben Jahre ist es her, seit Sebastian Baumgarten in Berlin an der Komischen Oper „Carmen“ mit ungewöhnlichen, teils aktualisierenden, teils symbolischen Bildern gefüllt hatte, und vergangenen Sommer flatterte den TV-Haushalten eine Digest-Version von Bizets 1875 uraufgeführter Oper von der Bregenzer Seebühne ins Haus.

Scheinbar so linear wie Kasper Holten in Bregenz, inszeniert auch Ole Anders Tandberg die Geschichte nach der Novelle von Prosper Mérimée in der Originalversion, ohne die später nachkomponierten Rezitative, mit deutlich verknappten Dialogen an der Deutschen Oper Berlin. Doch Tandbergs Umgang mit der Spielvorlage ist deutlich ein heutiger, Bezug nehmend auf jene kriminellen Vorgehensweisen, die insbesondere in Asien ruchbar sind.

Menschen werden getötet um ihre Organe für Transplantationen teuer zu verkaufen. In der Opernhandlung sind es die Schmuggler, die sich zunächst für Flüchtlingstransporte bezahlen lassen, dann jedoch die Flüchtlinge umbringen und deren innere Organe entnehmen. Auch Don José wird als ein derartiger Zulieferer für menschliche Ersatzteile ausgebildet und darf sein Probestück an seinem ehemaligen Chef, dem Offizier Zuniga (Tobias Kehrer), vollbringen; schließlich schneidet er auch seiner geliebten Carmen das Herz heraus, singt mit diesem Organ in seinen Händen das Ende.

Wenig Gegenliebe beim konservativen Publikum

Das liest sich grausam, wirkt in der Tat auch so, obwohl es oft ironisch gebrochen wird, und stößt auf verständlicher wenig Gegenliebe beim konservativen Publikum. So auch die hier in Szene gesetzte, aus der Praxis des Stierkampfs sattsam bekannte Tatsache, dass der Torero dem gefällten Stier – als eine in Spanien besonders gefragte kulinarische Köstlichkeit – die Hoden abschneidet. Hier ist es das gesamte Gemächt, welches Escamillo der verehrten Carmen anzüglich vermacht, die es dann im Orchestergraben versenkt.

Frasquita (Nicole Haslett) und Mercédés (Jana Kusucová spalten sich bei ihrem ersten Auftritt aus dem roten Volant- und Rüschenkleid der Titelheldin, werden zu Carmen- Doubles in identischen Kleidern (Kostüme: Maria Geber). Ihr Quartett mit Remendado (Ya-Chung Huang) und Dancairo (Dean Murphy) ist als Musical- Shownummer choreographiert. Statt der Spielkarten werden im Kartenterzett zahllose entnommene Nieren befragt. Bei den Zukunftsprognosen der Wahrsagerinnen fliegen die Innereien als Slapstick-Nummer durch die Luft in bereitgestellte Transportboxen, Remendado zeigt, dass er auch damit zu jonglieren versteht.

Erstaunlicherweise hat der Catering-Betrieb in der Deutschen Oper diese Idee nicht sofort adaptiert; „saure Nierchen“ finden sich (noch?) nicht auf dem Speiseplan für die Pause, wohingegen sich das Angebot von Havannas selbstredend ausschließt, obgleich diese von Carmen und ihren Kolleginnen genüsslich konsumiert werden (was Husten im Publikum auslöst).

Als weitere Opfer für die Medizin dienen offenbar die Soldaten: von Frasquita und Mercédés animiert, agieren sie als Samenspender, die so heftig gegen die Wand onanieren müssen, dass sie anschließend vor Erschöpfung umfallen und von den Handlangern der Wissenschaft – wohl für weitere Versuche – abgeschleift werden.

Dazwischen erlebt der Besucher immer wieder vergleichsweise konventionell geführte Arrangements, aber auch allegorische Auftritte, die an die Praxis von Hans Neuenfels gemahnen. So sind es in Tandbergs Inszenierung nicht Knaben, die sich am militärischen (und gegenüber Micaëla chauvinistisch sexistischen) Gebaren der Soldaten orientieren, sondern zombiehaft geschminkte Mädchen mit Schleifen im Haar und leuchtenden Kugeln, vielleicht so etwas wie Wahrsagerinnen des Schicksals (Kinderchor-Einstudierung von Christian Lindhorst). Die hier nicht singenden Knaben hat offenbar bereits das Zeitliche gesegnet, denn jene Kindersoldaten, die in einer Szene auf der Tribüne vorbeirumpeln, tragen bereits Engelsflügel, halten aber immer noch ihre Gewehre fest in den Händen, betrauert von einer Reihe von Müttern im streng historischen, schwarzen spanischen Kostüm á la „Bluthochzeit“ oder „Bernarda Albas Haus“.

Arbeit mit dem Chor

Sehr gut hat der Regisseur mit dem Chor gearbeitet. So agiert bereits der Herrenchor in einem individualisierten Bild, der Eingangsszene der Oper, an der Rampe sehr präzise. Später hat der Chor rasche Umzüge zwischen den zur Hinrichtung bestimmten Flüchtlingen, die von Carmens beiden Helferinnen erschossen werden, und einmal sogar als sich im Rhythmus des Gesanges wiegende Gespenster (klassisch in weißen Bettlaken mit ausgeschnittenen Augenlöchern). Köstlich umgesetzt hat Choreografin Silke Sense die Mauerschau des Chores im Schlussakt, mit unterschiedlich schnell im Takt geschlagenen Taschentüchern und Hut-Würfen.

Ausstatter Erlend Birkeland hat eine runde, auf der Rückseite mit Latten verkleidete Tribüne auf die Drehbühne gesetzt, die sich auch als Schlucht auseinanderfahren lässt. Aber das Auseinanderfahren beziehungsweise Wiederverbinden der beiden Hälften erfordert quälend lange Umbaupausen, während der Zuschauerraum schwach erleuchtet wird. So wird der Fluss von Handlung und Musik ungünstig gestört, der Abend unnötig in die Länge gezogen.

Ausgewogenheit zwischen Graben und Bühne

Dirigent Ivan Repušić geht die Vorspiele frisch an und sorgt für Ausgewogenheit zwischen Graben – mit dem sehr gut disponierten Orchester der Deutschen Oper Berlin – und Bühne, mit dem von Jeremy Bines einstudierten, trefflich singenden Chor und überdurchschnittlich guten Solisten. Markus Brück gestaltet des Escamillo souverän, in der gebotenen Arroganz vielleicht etwas zu gleichförmig. Als Don José ist Charles Castronovo zu erleben: ein Spitzentenor, dem zuzuhören reine Freude bereitet. Die französische Mezzosopranistin Clémentine Margaine in der Titelpartie nimmt zur Steigerung ihrer Dramatik die Töne oft flach, neigt insgesamt zum Detonieren.

Gleichwohl gab es in der vom Rezensenten besuchten zweiten Auflockerung sehr viel Jubel, auch Zwischenapplaus für die musikalische Seite (mit leichten Einschränkungen für Heidi Stöber als Micaëla) von einem überdurchschnittlich jungen Publikum, mit auffallend vielen Jugendlichen und Kindern. Dabei hatte die Vorstellung mit einem gefährlichen, sich verbreitenden und anschwellenden Zischen im Publikum begonnen, welches an die alte Praxis des Zischens als Missfallens-Ausdruck (vor Einführung der Buhrufe) gemahnte; aber es war wohl nur ein sich potenzierender Selbstläufer gegen jene Besucher, die im verdunkelten Auditorium ihre Privatgespräche nicht einstellen wollten.

Später wurden, während der Szenenwechsel, immer wieder massive Missfallensäußerungen ob des ungewöhnlichen, aktualisierenden Ansatzes laut. Gleichwohl eine hörens- und sehenswerte, bis hin zum Goldlamettaregen während der Begrüßung der Stierkampf-Honoratioren durchaus opulente Musiktheaterproduktion.

  • Weitere Aufführungen: 27. Januar, 4. und 10. Februar, 30. Mai, 1., 7., 9. und 16. Juni 2018.

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