214 Bewerbungen aus 32 Nationen gab es für den Europäischen Opernregie-Preis 2018. Nach der Finalrunde in Zürich vergab die Jury zwei erste Plätze. Einer davon ging an den britischen Regisseur Gerard Jones und die in London lebende Bühnen- und Kostümbildnerin Cécile Trémolières. Ihr Konzept für Giacomo Puccinis Oper „Manon Lescaut“ ist jetzt am Staatstheater Mainz zu erleben.
Den Europäischen Opernregie-Preis verleihen die Wiesbadener Camerata Nuova, eine Vereinigung von Opernliebhabern, und Opera Europa, eine Service-Organisation für Opernunternehmen und -Festivals gemeinsam alle zwei Jahre. Von den Bewerbern im Alter bis zu 35 Jahren wird ein anonym einzureichendes Konzept für Regie und Ausstattung einer Oper erwartet. Die technischen und personellen Ressourcen des mitwirkenden Opernhauses sollen berücksichtigen werden, und die ausgewählten Kandidaten müssen beweisen, dass sie ein Sängerensemble leiten können.
Was macht Jones und Trémolières zu Siegern? Eine schriftliche Begründung der Jury gibt es überraschenderweise nicht. Das Urteil sei einstimmig gewesen, verlautet aus dem Mainzer Staatstheater. Dafür, dass bei der Entscheidungsfindung Pragmatismus und „common sense“ am Werk gewesen sein dürften, spricht schon der doppelte Fokus auf Regie und Ausstattung. Die an deutschen Theatern beliebte Sparversion mit leerer Bühne scheidet damit schon einmal aus. Und dank der internationalen Zusammensetzung der Kunstrichter – 2018 eine Norwegerin, eine Polin und drei Briten – ist auch mit ausgeprägtem Regietheater („German trash“) nicht zu rechnen. Museale Entwürfe sind freilich ebensowenig gefragt. Immerhin wünscht sich die Camerata Nuova „die jungen Wilden, Romantischen oder Frechen“ ans Regiepult, und dass sie die Oper „immer wieder ganz frisch mit der Gegenwart in Beziehung setzen“.
So richtig wild, romantisch oder frech ist die Mainzer „Manon Lescaut“ nicht – eher nachdenklich und gut durchdacht. In einem (etwas entlegenen) Presse-Interview beschreibt Gerard Jones sein Konzept als „nachhaltige Nahaufnahme einer Liebesaffäre“. Die Oper zeige „die Entwicklung des Lebens einer Frau durch eine Gesellschaft, die Sexualität, Schönheit und Unabhängigkeit verehrt und dämonisiert.“ Wichtiges Symbol und technisches Mittel der Bühne zugleich ist ein Laufband. Derlei haben wir im Mainzer Großen Haus schon einmal gesehen: 2006 in George Delnons Inszenierung von Mozarts „Don Giovanni“. Damals stand das Band für das Gehetztsein des Titelhelden. 2020 in „Manon Lescaut“ zeigt es eher, wie schnell die Lebensstationen an der Titelheldin und ihrem unglücklichen Geliebten Renato des Grieux vorbeiziehen. In beiden Fällen aber scheint eher ein Mechanismus am Werk als der freie Wille der Protagonisten. Und wer gegen die Laufrichtung des Bandes läuft, wirkt, als renne er an gegen die Zwangsläufigkeit des Geschehens.
Bei Puccini setzt die Bühnenhandlung in Amiens ein, wo sich der Student René des Grieux auf den ersten Blick in ein Mädchen verliebt, das der Postkutsche aus Arras entsteigt: Die 18-jährige Manon Lescaut wird von ihrem Bruder auf väterliches Geheiß in das ihr zugedachte Kloster begleitet. Doch statt mit den anderen Reisenden zu übernachten, lässt sie sich von des Grieux in jener Kutsche entführen, die der ältliche Steuerpächter Geronte de Ravoir schon zu eben diesem Zweck bestellt hatte. Puccini hat den Beginn dieser amour fou in eine fröhliche abendliche Genreszene eingebettet; Cécile Trémolières gestaltet dazu eine französische Straßenszene im Stil der frühen 1980er Jahre, in der sich die Stadtbewohner zu einer Fußballübertragung im Freien vor dem einzig vorhandenen tragbaren Fernsehgerät versammeln. Nach deren Ende ist nicht die Kutsche, sondern der Bus aus Arras die nächste Attraktion. Er erscheint zur Freude des Publikums auf einer kleinen Guckkastenbühne hinter dem Laufband, und ihm entsteigt eine von zwei Nonnen eskortierte Gruppe von Mädchen in Schuluniform. Die lebenslustige Manon (Nadja Stefanoff) gewinnt die Aufmerksamkeit des Studenten, der bislang nur Augen für seine Bücher hatte, die Blicke wandern hin und her, der Kontakt ist schnell geknüpft, und am Ende darf sich das Publikum über die beiden jungen Leute freuen, die dem „geilen alten Sack“ de Ravoir (Stephan Bootz) zuvorgekommen sind. Bedenklich ist nur, dass sich Manons Bruder (Michael Dahmen) dem Steuerpächter andient.
Wie kommt es, dass wir im 2. Akt Manon als verwöhntes Luxusweibchen im Pariser Haus von de Ravoir antreffen? Dass ihrem René das Geld ausgegangen ist, ist das Grund genug, die wahre Liebe gegen die Liebe als Ware zu vertauschen? Und warum will sie dann doch wieder zurück? Das Regieteam baut zwei Rückblenden in Manons Kindheit ein: Die erste sehen wir in der Ouvertüre. Da läuft die kleine Manon mit ihren Altersgenossinnen über die Bühne, aber als einzige in übergroßen grünen Stöckelschuhen – vergleichbar den nicht wenigen jungen Mädchen, die sich heutzutage in ihrem Rollenbild an Heidi Klums Casting-Show „Germanys Next Top Model“ orientieren. Manon selbst neigt also zur Eitelkeit. Die zweite Rückblende erscheint im 4. Akt: Da sieht sich Manon inmitten ihrer Schulklasse, und die Lehrerin hat gerade einen Bibelspruch an die Tafel geschrieben. „Wer zugrunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall“, steht dort in italienischer Sprache. (Auf der Rückseite des Programmheftes finden wir die deutsche Übersetzung von Sprüche Salomos 16,18.) Manon hat also andererseits durchaus eine Idee von Moral. Die Gesellschaft wiederum hat offensichtlich ein Problem mit Frauen, die aus der Reihe tanzen. Und sie ist, wie wir sehen werden, schnell dabei, moralisch zu verurteilen, was sie zuvor voyeuristisch genossen hat.
Manons Bruder ist inzwischen zu Geld gekommen; er trägt einen bunt schillernden Anzug und eine blondgefärbte Haartolle über der Stirn, verhält sich recht exzentrisch und schnupft ein weißes Pulver, von dem er auch seiner Schwester abgibt. Er scheint voll abgetaucht zu sein ins Großstadtleben der 1990er Jahre. Der alte de Ravoir führt ein schizoides Doppelleben. Seiner jungen Freundin schreibt er hingebungsvoll eine altmodische Serenade und lässt sie von lebendigen Musikern aufführen; aber er führt sie auch seinen gleichaltrigen Freunden vor, die wie er auf junge Frauen stehen und sie sexuell ausbeuten. Dass Manon ein Menuett tanzen soll, wird unproblematisch zur modernen Ballettlektion umgedeutet. Des Grieux hat sich nur äußerlich verändert. Er liebt Manon immer noch und wieder wider alle Vernunft; nur scheitert er diesmal mit der Flucht, weil sie von ihrem teuren Schmuck nicht lassen kann.
Dass Manon Lescaut wie im gleichnamigen Roman des Abbé Prévost nach Nordamerika deportiert wird, war schon zu Puccinis Zeiten ein Anachronismus; Frankreich hatte seine dortigen Kolonien längst verloren. Jones und Trémolières bleiben im 3. Akt bei dieser Destination; allerdings erfolgt die Abschiebung nun per Flugzeug, die Frauen tragen orangene Sträflingsanzüge. Manon wird sogar im Käfig vorgeführt, während eine gesittete Gruppe besorgter Bürger gegen den Ausverkauf traditioneller Werte demonstriert und dabei allenfalls verbal ausfällig wird. Wir sind gewissermaßen in den 2000er Jahren. Das düstere Szenario atmet Krimi-Atmosphäre, doch der Befreiungsversuch von Manons Bruder misslingt. Immerhin lässt sich der Flugkapitän bestechen, den flehenden Liebhaber mit an Bord zu nehmen. Fast sämtliche bisherige Heiterkeit ist aus dieser Szene gewichen; nur das Auffliegen eines Modell-Düsenjägers zum Bühnenhimmel sorgt noch einmal kurz für einen Lacher.
Möchte man die Aufführung bis hierher bilanzieren, so lässt sich viel Gutes notieren: Die Personenführung ist ausgezeichnet und schmiegt sich der vom Philharmonischen Staatsorchester Mainz unter dem Gastdirigenten Daniel Montané sensibel interpretierten Partitur ausgezeichnet an. Sämtliche Akteure zeigen hohe Präsenz – von den Hauptdarstellern über die Nebenrollen, den Chor und Extrachor bis hin in die Statisterie. Bewundernswert ist Nadja Stefanoffs Wandlungsfähigkeit von Station zu Station, und auch Michael Dahmen nehmen wir den chamäleonhaften Bruder ab. Eric Laporte bewältigt die schwierige Des-Grieux-Partie souverän; allenfalls hätte man sich ab und an leisere, intimere Töne vorstellen können. Bei allem bleibt insgesamt eine eigenartige Diskrepanz: Während in Puccinis Musik die Leidenschaft hochkocht, lässt sich das szenische Geschehen mit einer gewissen Nüchternheit beobachten: Stolpern da nicht Menschen in ihr Unglück, die es hätten besser wissen müssen? Warum etwa muss es auch noch so weit kommen, dass die Liebenden in die Wüste fliehen?
Auf der Bühne des Mainzer Staatstheaters ist die Wüste eine unendliche Folge menschlicher Elendsgestalten, die den beiden unglücklich Liebenden auf dem Laufband entgegen kommt: Arme, Obdachlose, Trinker, Kiffer, meist in abgerissenen Klamotten, manche noch mit ein wenig Gepäck. Einer von ihnen hämmert beständig mit den Händen gegen den Schädel, als ob er sagen wollte: „Das darf doch alles nicht wahr sein!“ Manon und René stolpern nebeneinander her. Sie singen von körperlicher Nähe, von Tränen und von Küssen, berühren sich aber gar nicht mehr, sehen sich nicht einmal mehr an. René macht sich auf, um für Manon Wasser zu holen, kommt aber nicht einmal auf die Idee, einen der anderen Unglücklichen um Hilfe zu bitten. Sogar ein großer, schon leicht rostiger Kühlschrank zieht an ihm vorbei; steht nicht sogar Manons Bruder reglos nebendran? René öffnet die Tür und schließt sie wieder. Ist nichts Trinkbares drin oder nimmt er es nicht mehr wahr? Unverrichteter Dinge kehrt er in die Nähe der sterbenden Geliebten zurück. Und als sie auf dem Band wegbefördert, man möchte sagen „entsorgt“, wird, steht er hilflos da, mit leerem Blick.
Beim Beobachter ist da die Distanz schon der Beklemmung gewichen. Mit einer Gesellschaft, die selbst zur lebensfeindlichen Wüste geworden ist, sind wir in der Gegenwart angelangt. Soll da die Musik nicht mit Leidenschaft protestieren?