Mit der Produktion von „Der Besuch der alten Dame“, ihrer Hommage zum 100. Geburtstag von Gottfried von Einem, bestätigen die Landesbühnen Sachsen einmal mehr Anspruch und vitales Leistungsvermögen. In den Hauptrollen dieser perfiden Komödie, die hier zur eindrucksvoll bösen „Opéra noire“ wird, erlebt man die beiden großartigen Sängerdarsteller Stephanie Krone und Paul Gukhue Song.
Vielen sind traditionelle Mittel im Musiktheater des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts nicht genug aufregend, innovativ, revolutionär. An den Landesbühnen Sachsen bewegt Gottfried von Einems 1971 mit Christa Ludwig in der Titelrolle uraufgeführte Oper nach Friedrich Dürrenmatts „Komödie“ aber weitaus mehr als seine Revolutions- und Terroroper „Dantons Tod“ zum Beispiel in Magdeburg. Bei den ersten Salzburger Festspielen nach dem Zweiten Weltkrieg stand der bereits im Nationalsozialismus protegierte Komponist 1947 noch unter dem Druck, eine ideologisch akzeptable und künstlerisch zukunftsfähige Oper liefern zu müssen. „Der Besuch der alten Dame“ dagegen zeigt Authentizität auch darin, dass der schnell arrivierte Gottfried von Einem mit Zustimmung und Mitarbeit des Schweizer Dramatikers aus dessen ätzendem Schauspiel über Unerbittlichkeit und zweckorientierte Justiz eine aus den Eingeweiden brodelnde Musiktragödie modellierte.
Das ist brandaktuell. Die aktuelle #MeToo-Diskussion beinhaltet unter anderem die Fragen nach der Verifizierbarkeit sexueller Vergehen nach langen zeitlichen Abständen und der moralischen Gültigkeit einer Rechtsprechung, die sich durch sekundäre Gründe und Argumente leiten lässt. Um genau diese Themen geht in der Oper über die alte Dame Claire Zachanassian alias Klara Wäscher, die ihr Heimat-Kaff Güllen erst systematisch in den wirtschaftlichen Ruin treibt und dann als Gegenleistung für die von ihr in Aussicht gestellten Millionen den Tod des angesehenen Alfred Ill fordert. Den bekommt sie: Die Güllener nehmen Claires Stiftung an und liquidieren den Mitbürger, der Claire 45 Jahre früher vergewaltigte. Die offizielle Verlautbarung: Nicht aus wirtschaftlichen, sondern moralischen Gründen. Doppelmoral ist also der dritte Anklagepunkt, der hier zum Thema wird.
Einems Musik macht die Güllener klein und die Protagonisten groß: Immer wieder sprießen unter der Todesangst Alfred Ills und unter Claire Zachanassians Zynismus kantable Gefühle mir der früheren Intimität. Das legitimiert die gemäßigt moderne Deklamation Einems und sein Pulsieren à la Richard Strauss für die untote Vergangenheit. Dürrenmatt und Einem überlassen den Zuschauern, ob diese Partei ergreifen für Claire oder Ill, die in der Oper beide mit starken Emotionen agieren. Die Musik erhält auch darin Primat, dass Ekkehard Klemm die Elbland Philharmonie Sachsen im Stammhaus Radebeul auf der Bühne dirigiert und so ein dichtes musikdramatisches Fluidum erzeugt: Davor setzte Christoph Gehre eine Wand mit verschmutzten Glasflächen und Galerie, auf der Claire wie einer echten Königin der Pailletten-Roben die Hilferufe und Huldigungen ihrer Völker zufliegen. Kostüme und das düstere Licht scheinen erst die Ausdrucksmöglichkeiten des Zeitsprungs zwischen den Erinnerungen an die Vergangenheit 45 Jahre früher etwas zu verschenken. Also auch jene Präsenz, die so viel über Dürrenmatts Denken, die Musiksprache Einems als Spiegel des 20. Jahrhunderts und die Intensität des Geschehens aussagen könnte.
Ethische und theatrale Freiräume
Aber das reißt Regisseur Sebastian Welker mit einer teuflischen Idee heraus, nachdem er zuerst etwas Irritationsgift versprüht: Das Einst wird zu szenischer Gegenwart, die Haupthandlung zur Fiktion. Denn der junge, noch dazu grundsympathische Ill (David Espinosa Angel) malt sich bei einer Begegnung mit der fortgeschritten schwangeren Geliebten Klara Wäscher (Morgan Perez) aus, was für schädigende Konsequenzen ihre Beziehung haben könnte. So fabuliert er seinen eigenen Tod und dann wird der junge Ill so hart, das der erpresserische Vergeltungsdrang Claire Zachanassians dagegen harmlos wirkt. Ein überraschender und bitterböser Schlussstreich kurz vor Ende eröffnet ethische und theatrale Freiräume.
Zuerst für die Darstellung der Zivilgesellschaft, aus der nur Dan Chamandy als Bürgermeister mit einem größeren Part heraussticht. Er und sein Belcanto-Tenor bestätigen auf der Handlungsebene mit massiver Überzeugungskraft: „Geld macht sinnlich.“ Die bizarre Entourage der nur durch Prothesen aktionsfähigen Claire und die mit ihrer Rückkehr vom grauen Elend in den gewohnten Wohlstand wieder arroganten Güllener sind eine Glanzleistung des von Sebastian Matthias Fisher und Elke Linder prächtig einstudierten Opernchores der Landesbühnen. Fast noch überzeugender agiert diese erst so eindringlich verwilderte Abwärtsgesellschaft nach ihrer Sanierung, die Opfer fordert und deshalb freudlos bleibt.
Schon allein die beiden Protagonisten sprechen für die Stückwahl. Ein ganz starker Kniff Einems ist, dass der Titelpartie, egal ob verkörpert durch einen starken Sopran oder Mezzosopran, immer etwas Unvollkommenes anhaften muss. Stephanie Krone ist eine vitale Bühnenpersönlichkeit auf der vollen Höhe ihrer musikalischen und szenischen Leistungskraft. So verstärkt sie die Präsenz der „alten Dame“, macht aus Claire ein glamouröses Wesen, dem die oberflächenhungrigen Güllener alles verzeihen. Körperlichen und menschlichen Verfall spielt sie als Pose, nicht als Tatsache, und dreht damit die Gewichtung der Beziehung zu Ill um. Diese vokale und vitale Weiblichkeit wird bedrohlich, jeder Widerstand versagt. Denn Alfred Ill, der hier wie Claire die Figur in einem Tagtraum ist, lebt und kämpft in größeren, mehr raumgreifenden und dabei immer mehr an den Rand des Abgrunds treibenden Dimensionen. Paul Gukhoe Song attackiert mit einem klar fokussierten, textpointierten Bariton, der von klaren Parlando bis zum Ausbruch eine beeindruckende Fülle an Mitteln und Farben zeigt.
Diese Produktion hat also keinerlei Skrupel und greift alle Angebote Einems und Dürrenmatts für einen satten Genrewechsel zur „Opéra noire“ freudig auf: Das wird in Radebeul zum Psychothriller, kapitalistischen Endspiel und Melodram mit Dynamit.
Besetzung: Claire Zachanassian, Multimillionärin - Stephanie Krone; Der Butler - Kay Frenzel; Alfred Ill - Paul Gukhoe Song; Seine Frau -Anna Erxleben; Sein Sohn - Andreas Petzoldt; Bürgermeister - Sebastjan Podbregar; Pfarrer - Hagen Erkrath; Lehrer - Kazuhisa Kurumada; Doktor - Stefan Glause; Polizist - Michael König; Erste Frau - Christiane Günther - Zweite Frau - Ekaterina Iankowskaia; Hofbauer, Bürger - Stephan Liebich; Zugführer / Helmesberger, Büger - Fred Bonitz; Stationsvorsteher - Sebastian Thieme; Schaffner / Eine Stimme - Stephan Liebich; Kameramann - Ho-Geun Lee; Bürger von Güllen - Chor der Landesbühnen Sachsen
- Wieder am Fr 01.06./20:00 Uhr – So 03.06./19.00 Uhr - S 10.06./15.00 Uhr (Landesbühnen Sachsen, Stammhaus Radebeul)