In der jüngsten Kassler Inszenierung von Peter Tschaikowskis „Piqué Dame“ ist der Ausländer im Stück offensichtlich nicht nur spielsüchtig, sondern konsumiert obendrein auch Drogen. Regisseurin Ariane Kareev lässt ihn im Zeitalter der political correctness (der man an diesem Haus mit Hingabe frönt) zwar weder schnüffeln, noch spritzen oder rauchen. Aber sie versucht, dessen Sicht auf seine Umgebung und die Menschen, die ihm begegnen, mit (s)einer psychotischen Blickverengung sichtbar zu machen; die nur er für eine Blickerweiterung hält. Das gelingt ihr insofern, als Hermann dieses Gefängnis einer sehr begrenzten Wahrnehmung nicht mehr zu verlassen vermag. Er bleibt in ihr gefangen und damit auch wir.
Der Preis für diese immerhin konsequente Sichtweise ist der Verlust eines Empathie ermöglichenden Blickes auf die Menschen um ihn herum und das ganze Ensemble ihrer Beziehungen. Für Hermann existiert alles nur in Bezug auf seine Obsession, beim Spielen zu gewinnen. Ob er überhaupt weiß, was er mit eventuell gewonnen Reichtümern anstellen könnte, ist mehr als ungewiss. Selbst die eingespielten Videos, die eine Scheinwelt von Reichtum, Schönheit und der Leichtigkeit des Seins vorgaukeln, erreichen ihn nicht wirklich. Er bliebe in dieser coolen Wellness-Welt immer Außenseiter. In Alexander Puschkins das Libretto des Komponistenbruders Modest inspirierender Novelle wird Hermanns Fixierung auf sich selbst noch nicht durch die dazu erfundene Liebe zu Lisa bemäntelt. Die wird in dieser Inszenierung (vielleicht daher) auch nicht sehr überzeugend verkörpert. Hermann merkt nicht mal gleich, dass er Lisa erwürgt hat. Auch, was Lisa an diesem Mann findet, bleibt ihr Geheimnis.
Was Konrad Kästner an motivierenden Leitbildern in sein ansonsten vor allem surreal psychedelisch wirkenden Videoambiente hinein collagiert hat, gehört zu der Art von parvenühaftem Reichtum, den die Herrschenden im gegenwärtigen Russland, zumindest für sich selbst, nicht zur verteufelten westlichen Dekadenz rechnen. Diese ausgelegte Steilvorlage für einen Seitenblick ins gegenwärtige Russland, dem man mit Tschaikowskis Musik (wie David Marton mit seiner „Piqué Dame“ in Brüssel - siehe NMZ) durchaus emotional auf die Schliche kommen könnte, nutzt Kareev freilich nicht. Sie bleibt im vermeintlich Exemplarischen der verkorksten Weltsicht Hermanns, der in seiner Vorstellung nicht nur die beiden Frauen, sondern auch sich als diese magischen drei Karten personalisiert.
Da er vor dem letzten großen Spiel die Gräfin und Lisa erwürgt hat, legt er die beiden wie zwei Spielkarten auf jenen Spieltisch, der wohl als ein Artefakt des Surrealismus mit vielen Augäpfeln versehen ist (Bühne: Lina Oanh Nguyễn). Selbst die reale Lisa war bei ihm längst zu einem vom Schönheitschirurgen aufgespritzen Bild geworden, dessen Mund, Augen und langen schwarzen Haare er auch in allen anderen Frauen und Männern sieht. Was dem gesamten Chor (einstudiert von Marco Zeiser Celesti) zu einem zweifelhaften Outfit verhilft (Kostüme: Mechthild Feuerstein). Es erinnert mitunter an die Spielkarten von Alice im Wunderland, die schwarzen Schnabel-Masken der Spieler bei Hermanns letztem Auftritt wiederum an die Atmosphäre von Eyes Wide Shut.
Neben der eigenwilligen und der oft willkürlichen Bild- und Farbästhetik, in die etliche kleinteilige Einfälle verpackt sind, gibt es auch welche aus der Kategorie Hingucker. Der erste ist ganz banal ein Laufsteg bis in den Zuschauerraum, auf dem Hermann dem Publikum zumindest rein körperlich nahe kommt. Der zweite betrifft das Intermezzo, für dessen musikalische Leichtigkeit sich Tschaikowski wohl von Mozart inspirieren ließ. Wenn hier zwei junge Männer mit nackter, stolz geschwellter Brust auftauchen, vermutet man erst einen Box-Schaukampf. Was es aber gibt, ist ein von Josa Kölbel choreografiertes Pas de Deux der Artisten Daniel Juntana und Seraphim Richter. Elegant und hochmusikalisch, am Boden und in der Höhe jeder an einem Seil. Auch das ist ein Ausbruch aus einer erzählten Geschichte, aber einer, der sich immerhin ästhetisch legitimiert.
Und dann ist da noch die alte Gräfin. Meist eine Paraderolle für die Großen ihres Faches im Karriereherbst. Zunächst kommt Ilseyar Khayrullova auch in einem entsprechenden Habitus daher. Für Momente hält man den Blick auf ihre nur leichtverhüllten Beine für einen Kostümfehler. Ist er aber nicht. Der Blicklogik der Inszenierung folgend, entpuppt sich die Gräfin als attraktive verführerische Frau, so wie sie sich selbst in der Erinnerung an ihre Erfolge am französischen Hof stilisiert. Gleichwohl gibt dieser radikale Jungbrunnen den Überbleibseln eines narrativen Pfades den Rest. Wenn am Ende die Computerspielversion eines Waldes brennt und ein Panzer das Publikum bedroht, wundert das niemanden mehr…
Grund zur Freude liefert das Staatsorchester. Am Pult war kurzfristig (warum auch immer) der eh fürs Nachdirigieren vorgesehene Kiril Stankow an Stelle des eigentlich vorgesehenen GMD Francesco Angelico eingesprungen. Der setzt nicht nur im Intermezzo auf eine gewisse Leichtigkeit. Er lässt die Leidenschaften der Musik lodern, ohne das Pathos überborden zu lassen. Er trägt die Sänger auf Händen und dazu bei, die Figuren, vor allem musikalisch, manchmal auch gegen eine szenische Verflachung zu profilieren. Der eigentliche (wenn auch nicht Titel-) Held der Geschichte ist dafür typisch. Viktor Antipenko ist ein standfester Tenor, der das Scheitern des Spielers und seine Obsessionen vokal überzeugender gestaltet als sie darstellerisch zu vermitteln. Margrethe Fredheim ist eine kraftvolle Lisa, ebenso Marta Herman eine markante Polina. Vor allem Stefan Hadžić als Fürst Jeletzkij und Plutus Filippo Bettoschi als Tomskij belegen die Qualitäten des hauseigenen Ensembles. Am Ende: einhelliger Applaus für alle.