Berlins neue „Götterdämmerung“ an der Deutschen Oper beginnt mit verblüffender Erzählweise. Nachdem die Besucher*innen ihre Plätze erreicht und ihre Mund-Nasen-Schutz-Masken abgenommen haben, werden sie beim Öffnen des Vorhangs mit jenem Parkett- Foyer konfrontiert, das sie eben erst verlassen haben: unter der kinetischen Metallstruktur von George Bakers sind die Opernbesucher im Foyer zu einem lebenden Bild eingefroren, bis sie sich dann doch gemeinsam in exzentrischen Bewegungen ergehen – bis auf einen Herrn, der sich daran nicht beteiligt und der sich später als Hagen herausstellt.
Die drei Nornen mit schwarzen Augenbinden bilden ihr Schicksalsseil aus den Besuchern, die sich als Kette an den Händen halten. Nachdem sie ihre Premierenklamotten abgeworfen haben, erweisen sie sich als jene Schar von Flüchtlingen in weißer Unterwäsche, denen wir bereits im „Rheingold“ und in der „Walküre“ begegnet waren. Nun aber ahnen wir: das sind wir selbst, die wir Wagner erleben und rezipieren. Mittels Bühnenwagen verschiebt sich der Blick auf die Szenerie nach links. Dort erhebt sich hinter dem Flügel, auf dem Siegfried und Brünnhilde schlafen, der bekannte, gewaltige Bergaufbau aus Koffern. Aus den vordersten dieser Koffer kleiden sich die Flüchtlinge, die Siegfried laut beklatschen, um in historisierende Götter- und Heldengestalten (Kostüme: Uta Heiseke). In Waltrautes Erzählung von der gespenstischen Situation in Walhall, mit stummem Wotan, umgeben von den ängstlich auf ein Ende wartenden Göttern, Walküren und Helden, bilden sie dann als ein lebendes Bild jene Ansicht. (Nur einmal erfolgt Bewegung, bei „lächelte ewig der Gott“ – wohl da kein*er der Darsteller*innen so lange mit erhobenen Armen unbeweglich zu verharren vermag.)
Wie an den Vorabenden, spielen die Protagonisten gerne pantomimisch Wagners Klänge am großen Flügel mit. Nach einer Verschiebung auf die andere Seite wird ein weiterer Konzertflügel sichtbar, als Zeichen des Königtums der Gibichungen, mit den Geschwistern Gunther und Gutrune sowie deren Halbbruder Hagen – und auch dessen Vater Alberich ist mit von der Partie und darf auch am Flügel spielen.
Bei seiner Wacht verlässt Hagen die Bühne und tauscht den Platz mit einer Dame in der Mitte der ersten Reihe des Parketts; diese erweist sich als die Sänger*in-Darstellerin der Waltraute. Verblüffend auch der Abschluss des ersten Aufzuges, hier sogar mit einem Eingriff in Wagners Notentext. Denn die Partie des als Gunther verkleideten Siegfried teilen sich die beiden Blutsbrüder auf, welche rechts und links, maskiert und mit identischen Fräcken, die Szene betreten. Siegfried entreißt Brünnhilde den ihr im szenischen Vorspiel dieses Aufzugs als Liebespfand überlassenen Ring und überlässt sie Gunther zur Begattung. Er wandert auf die wieder nach rechts fahrende Szenerie und empfindet in der Begegnung mit Alberich einen Herzschmerz, ausgelöst durch den seine Brust bedrückenden Tarnhelm.
Wie in den vorangegangenen Abenden der Neuinzenierung von Stefan Herheim wird mehrfach die Ebene des Spiels betont. Brünnhilde erschrickt vor dem sich im Zwischenspiel erhellenden Zuschauerraum. Und gerne wird auf dem Souffleurkasten agiert, der im „Rheingold“ als das Reich Erdas initiiert worden war und in welchen nun die im Spiel überstrapazierten weißen Tücher häufig gezogen werden oder aus dem bei Bedarf Siegfried sein Schwert hervorzieht.
Leider ist es häufig bei Stefan Herheims Inszenierungen anzutreffen, dass sich seine originellen Mittel im dritten Aufzug verbraucht haben. Bei der „Götterdämmerung“ ist dies bereits für den zweiten Aufzug zu konstatieren. Doch gibt es auch weitere verblüffende Momente, etwa wenn Hagen, weiterhin auf dem Mittelplatz der ersten Reihe sitzend, vom Auditorium aus den nächtlichen Dialog mit seinem Vater Alberich führt. Der agiert vorne an der Rampe in Clownsmaske , nachdem im Vorspiel sein Versuch, Siegfried den Ring zu stehlen, gescheitert war. Hingegen gelingt es Hagen kurz darauf, Siegfried den Tarnhelm zu stehlen, was ohne Folgen bleibt, da dieses Requisit im weiteren Verlauf der Handlung nicht mehr gebraucht wird.
Wenn bei Brünnhildes Anrufung der Götter die Gesellschaft in Walhall erneut sichtbar wird, hat sich dieser Effekt bereits verbraucht, und absurd wird es, wenn Hagen dann über eine zentral angeschobene Treppe in Walhall eindringt um Wotan die obere Speerhälfte abzunehmen; diese wird er im Racheterzett als seinen Speer führen und im dritten Aufzug Siegfried damit ermorden.
Auch das Spiel der Handlungsträger*innen auf dem Flügel als scheinbare Meister- Pianisten á la Liszt, hat sich längst verbraucht, wenn Konzertpianist Gunther den Bericht Brünnhildes über Siegfrieds Stärken und Schwächen wie einen Liederabend begleitet, dem das Publikum auf der Bühne, nunmehr fein säuberlich getrennt in Herren und Damen, aber nun alle in Clowns-Masken (also quasi zum Spielball der Macht des Nachtalben Alberich geworden?) auf Stühlen lauscht. Zuvor war der Chor der Deutschen Oper Berlin über die vorderen Parketttüren als Opernpublikum mit Programmheften dieser Aufführung ins Spiel gekommen, bis zum Betreten der Hauptbühne mit Mundnasenschutz-Masken angetan.
Ungewöhnlich auch die Bildlösung für Siegfrieds Tod und Trauermarsch. Zur Jagdgesellschaft, die sich auf der Bühne am nachgestellten Buffet des Pausen-Foyers mit Alkoholika, Brezen und Häppchen eindeckt, gehören auch die Frauen. Die Rückerinnerung des sterbenden Siegfried an seine Erweckung Brünnhildes wird – zusammen mit dieser – vor aller Augen gespielt. Siegfried stirbt erst verspätet in den Armen von Gunther. Hagen legt Siegfrieds Helm und Kettenhemd an, schlägt dem Gemordeten mit dessen Schwert auch noch den Kopf ab und feiert gegenüber dem nun zu ebener Erde erscheinenden Wotan seinen Triumph über dessen Nachkommen.
Im Inneren des rechten Flügels werden dann nicht nur Siegfrieds Überreste, sondern auch die Bekleidung Wotans, der Walküren und Helden verbrannt, während die wieder zu einer Gesellschaft von Flüchtlingen in sexy Unterbekleidung gewandelten vormaligen Walhall-Bewohner mit ihren Armen das Feuer spielen, bis der Flügel mit all den ihn umgebenden Menschen gen Unterbühne versinkt. Vom Schnürboden senkt sich eine Batterie rotfarbiger Moving-Head-Scheinwerfer, die dann noch kurz allesamt in blauem Licht (wohl als der über die Ufer getretene Rhein) erstrahlen, bevor sie wieder entschweben. Entzaubert erscheint die leere Bühne im Arbeitslicht – aber noch nicht leer gefegt, was dann zu den Erlösungsklängen eine Putzfrau besorgt.
So konnten nach dem Verklingen der Musik erste Buhrufe nicht ausbleiben. Diese trafen partiell auch einzelne Gesangssolist*innen.
Gleichwohl konnte der Abend mit einigen überragenden Leistungen aufwarten. Dazu zählten in erster Linie der von Jeremy Bines einstudierte Chor, das zumeist fehler- wenn auch nicht makellos aufspielende Orchester und ein Siegfried-Sängerdarsteller, wie man ihn lange nicht mehr erleben durfte: mit einwandfreier Diktion, unverfälscht in der Farbe, mit kraftvollen, aber auch zarten Tönen vermag der amerikanische Tenor Clay Hilley mit der Fähigkeit zur Selbstironie ebenso zu überzeugen, wie mit den mühelos ausgehaltenen hohen Cs. Nina Stemme verkörpert die Brünnhilde schlicht und spielbetont. Die dänische Sopranistin bewältigt diese Partie mit strahlender Stimmgebung, wird darin allerdings noch überboten von der hell timbrierten, auch schon die Brünnhilde (zunächst in der „Walküre“) verkörpernde Kollegin Okka von der Damerau als Waltraute.
Ungewöhnlich ist die Interpretation des Hagen, nicht als ein Finsterling, sondern als ein jovialer, feixender, grinsender und auch laut auflachender Clown; der als „Starsolist“ angekündigte Gidon Saks überzeugt als Persönlichkeit, wenn auch mit stimmlichen Einschränkungen. Allerdings wurde er vor Beginn der Aufführung als plötzlich indisponiert angekündigt, so dass das Urteil über den Sänger in dieser Partie zu revidieren sein sollte, wenn der Bassist nicht angeschlagen ist. Dem amerikanischen Bariton Thomas Lehman gelingt als Gunther eine runde, überzeugende Leistung.
Mehr als dritte Norn denn als Gutrune vermochte Aile Asszonyi zu überzeugen; die ebenfalls bereits die Brünnhilde verkörpernde estnische Sopranistin gestaltet Gunthers Schwester zwar kräftiger als gemeinhin besetzt, aber mit Lautverfärbungen und extremer Textunverständlichkeit. Überhaupt ist es unerfreulich, dass gerade an jenem Opernhaus, an dem Götz Friedrich (nicht nur in seinem bis in die Vorjahre gespielten Vorgänger-„Ring“-Zyklus) großen Wert auf Diktion gelegt hatte, diese besondere Qualität leidet, wofür die Übertitel in deutscher und englischer Sprache keine echte Entschädigung bieten.
Einige Buhrufe evozierte Jürgen Linn, der den Alberich – anstelle des ursprünglich angekündigten Markus Brück – für die ungewöhnliche Rollengestaltung, aber offenbar für einige Zuschauer*innen profunde Basstöne vermissen ließ.
Die drei Rheintöchter Meechot Marrero, Karis Tucker und Anna Lapkovskaja, deren letztere zwei am Anfang des Abends auch Nornen verkörperten, wandeln sich bei ihrer Prophezeiung zu kahlköpfigen Schwestern der drei Nornen; ansonsten bilden sie ein schönes, homogenes Trio, das bis auf Tücherschwenken aber eher konzertant eingesetzt ist, und weit entfernt von der auch in diesem Programmheft angekündigten Rolle der Verführerinnen.
Selten habe ich Sir Donald Runnicles so überzeugend erlebt wie an diesem Abend, mit plastisch herausgearbeiteter Thematik, schwungvollen Tempi und tiefgehenden Momenten, zu denen weniger die symphonischen Teile dieser Partitur zählten (Siegfrieds Rheinfahrt, der Trauermarsch und Ende) als die Waltrauten-Erzählung.
Am Ende des 6 1/2 stündigen Premierenabends gab es viel Applaus, gemischt mit einigen heftigen Buhrufen für das Regie-Team.
Für die Beurteilung des Gesamteindrucks dieser Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen“ fehlt noch der „Siegfried“, der aufgrund des Lockdowns keine separate Premiere erleben durfte, sondern erst in den kompletten Ring Zyklus integriert werden soll.
- Weitere Aufführungen: 17., 24. und 31. Oktober 2021.