Ambitioniertes und Schwieriges aus (neuerer) Oper, Operette und Musical inklusive aller anspruchsvollen Hybridformen dazwischen bringt die Sächsische Staatsoper mit einer gekonnten Stückwahl in ihrer zweiten Spielstätte SemperZwei. Neben Höhepunkten führt das manchmal zur Bestätigung angezweifelter Fakten: Diesmal zeigte sich einmal mehr, dass Offenbach höllisch schwer ist und mehr sein muss als die Kombination von begabten jungen Opernstimmen, kabarettistischem Wollen, materialreicher Ausstattung und musikalischem Können: „Häuptling Abendwind“ wird an der Semperoper Dresden zur rumpelnden Bruchlandung.
Zu Beginn ein langes Schlagzeug-Solo von Nils Kochskämper, einem der Stipendiaten in der Giuseppe-Sinopoli-Akademie der Staatskapelle Dresden, die dann artig hinter einer hohen Hecke aufspielen. Unter dem Dirigat von Thomas Leo Cadenbach werden die jungen Musiker nur dann etwas mutiger und selbstbewusster, wenn ihnen Offenbachs geistreiche, pointierte, herzhaft-trockene Melodien unter die braven Finger kommen. Doch immer dann – das ist in der 1857 in Paris uraufgeführten und von Nestroy sofort mit schmalem Erfolg ‚ver-Wienerten‘ Opéra-bouffe „Vent-du-Soir ou l’Horrible Festin“ recht häufig! –, wenn Offenbach mitdenkende Interpreten fordert, geraten diese 80 Minuten bleischwer.
Das beginnt schon mit dem offenbar aus einer Improvisation entstandenen Schlagzeugsolo, das sich weder der spezifischen Gestik Offenbachs noch irgendeinem anderen Stil verpflichtet fühlt und deshalb sinnlos im Raum steht. Inspiriert wurde das Treiben der Rollenspiel-Indianer überdeutlich durch die Nähe zur Karl-May-Villa Old Shatterhand in Radebeul. Die sich vom Aktuellen weg mogelnde Textfassung von Bettina Bartz in Walter Thomas Heyns musikalischer Einrichtung kam 1995 im Schlossplatztheater Köpenick heraus. Also ist diese Produktion insgesamt eine recht (abend-)windige Angelegenheit. Schade, denn das eigentlich in Australien spielende Stück von den beiden Kannibalen-Häuptlingen Abendwind und Biberhahn, die jeweils die Gemahlin des Kollegen verzehrt hatten und nach einigen Speiseplan-Turbulenzen ihre Kinder miteinander verheiraten, wird auch von Schauspielensembles geschätzt.
Zwei Zelte, billig glänzende Turnschuhe unterm Federputz, umfangreiches Camping-Zubehör und (fast) perfekte Indianer-Etikette: Das ist die Freizeit-Welt von Feierabend-Häuptling Abendwind (als Sänger und Sprecher mit tollem Potenzial: Chao Deng), seiner Tochter Atala (vom Produktionsteam im Stich gelassene Sopran-Persönlichkeit: Tahnee Niboro) und Häuptling Biberhahn (Kabinettstückchen aus dem Wilden Osten: Jürgen Müller). Erst recht spät bemerkt man die metallene Leitplanke hinter der Campingstelle, über der abends der Straßenfluter anspringt. Durchschnittsdeutsche machen Urlaub vom Ich und leben das aus, was im Alltag nicht geht: „Wir essen keine Menschen, wir essen nur Ausländer.“ perlt es Abendwind jovial von den Lippen. Das wirkt, weil Chao Dong so sympathisch spricht, wie eine lässliche Pointe, auf die man so oder so reagieren kann...
In der detailverliebt realistischen Ausstattung von Timo Dentler und Okarina Peter forderte Manfred Weiß vom sich mit Eifer ins Zeug legenden Ensemble deutliche Dialoge mit lastender Bodenhaftung. Indes sind die Brechungen zwischen Figuren-Identitäten und Indianerspielen meist unklar. Aber gegen alle komödiantischen Verführungsversuche durch die im besten Sinne boulevardeske Ausstattung zeigt sich die Regie mit unumstößlicher Ablehnung. Schön, dass Christiane Hossfeld auch singen darf, aber eine Haltung zum Geschehen wurde von ihr offenbar nicht gefordert. Deshalb bleiben die Gründe ihres beträchtlich vergrößerten Parts – Eierschecke heißt sie sinnig – ein Mysterium.
Filet vom freilaufenden Friseur
Offenbachs Bühnenstücke gewinnen nur dann Leben, wenn angespielte Requisiten durch Worte und Töne der Darsteller zum Leuchten kommen, egal ob es sich um den Degen des seligen Papas einer gewissen Großherzogin von Gerolstein oder um Menschenfleisch handelt. Hier flutet das Aroma wie aus einer Ochsenbraterei in den Saal, wobei es sich doch um Bärenfleisch oder Filet vom freilaufenden Friseur handelt. An diesem Punkt ist man endlich einmal dem „richtigen“ Offenbach auf der Spur. Sonst vermisst man ihn in dieser Premiere, um Hunderte von Meilen entfernt ist von nur einer der Diskurs-Ebenen der „Rassismus“-Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum oder in Friedrich von Borries‘ und Jens-Uwe Fischers Studie über den „Wilden Westen Ostdeutschlands“. Ausstattung, Darstellung und Musik bilden drei Linien, die nicht miteinander in Berührung kommen wollen.
Wäre da nicht Johannes Richter, der als Friseur Arthur und potenzieller Braten unterm Petersiliensträußchen die verkrusteten Rollenspiele der Indianer-Kolonie garniert. Er hat als einziger im Ensemble das Offenbach-Gen in sich und auch die Freude daran, dieses zu zeigen. Sogar dem Kannibalismus gewinnt er also eine versöhnliche Seite ab, singt nicht einmal perfekt und weiß dafür genau, wie er seinen Part mit Sinn für‘s stimmige Timing und Betörer-Charme zu füllen hat. Dabei lässt er sich weder von der Regie noch von der musikalischen Leitung bremsen. Zum Glück für die Zuschauer, die so wenigstens von einem der Darsteller erfahren, was Offenbach sein kann und ist. Tahnee Niboro und Chao Deng würden da spürbar gerne mitziehen, hätte man ihnen das ermöglicht.
- Premiere: 14. Dezember 2018, 18:00 (besuchte Vorstellung) – Weitere Vorstellungen: 16., 17. Dezember 2018 und 16., 19., 21., 23., 25., 26. Januar 2019