Das Regieduo Jossi Wieler und Sergio Morabito nehmen den Kampf mit der weitschweifigen Grand Opéra Meyerbeers am Grand Théâtre de Genève nicht nur beherzt auf, sie begeben sich dabei gleichsam in einen Nahkampf. Das heißt nicht nur mit, sondern auch in jeder einzelnen Szene. Jede ist für sich genommen gründlich durchgearbeitet und lässt kaum Leere oder Statik aufkommen. Es ist packend zu sehen, wie da der Wahnsinn zur materiellen Gewalt wird. Die Kritik von Joachim Lange.
„Les Huguenots“ (Die Hugenotten) sind eine feste Säule der Meyerbeer-Renaissance. Ambitionierte Opernhäusern vergaben das Werk an namhafte Regisseure: Brüssel an Oliver Py 2011, Nürnberg 2014 an Tobias Kratzer, die Deutsche Oper Berlin an David Alden 2016, Paris 2018 an Andreas Kriegenburg und im Vorjahr die Semperoper Dresden an Peter Konwitschny.
Dass sich die Deutsche Oper in Berlin mit einem ganzen Zyklus und entsprechender wissenschaftlicher Begleitmusik als Hochburg der Meyerbeer-Renaissance zu etablieren verstand, hat gute historische Gründe. Der Protagonist der Grand Opéra wurde in Paris zum Weltstar, ist auf dem Jüdischen Friedhof in Prenzlauer Berg begraben, bietet musikalischen Charme und wurde von den Nazis verboten.
Seine „Hugenotten“ aus dem Jahr 1836 passen freilich auch nach Genf. Die Überlegung des neuen Intendanten Aviel Cahn, seinem Publikum damit zu kommen, liegt nahe. In der Geschichte wurde aus der geistigen Verwandtschaft mit der calvinistischen Schweiz einer der begehrten Exilorte, als es für die Protestanten in Frankreich in der Hitze des Sonnenkönigs zu heiß und zu brenzlich wurde.
In Eugène Scribes Libretto geht es 1836 um eine Melange aus der opernhaft tragischen Liebesgeschichte zwischen dem Hugenotten-Aktivisten Raoul und der Tochter des Katholikenführers Valentine einerseits und dem eskalierenden Streit religiöser Fanatiker andererseits. Der fünfstündige Fünfakter mündet in der berüchtigten Bartholomäusnacht, also mit jenem Gemetzel, das die Katholiken im August 1572 bei der Hochzeit Heinrichs von Navarra mit Margarete von Valois unter den Hugenotten anrichteten. Das bleibt ein zentrales europäisches Trauma. In der Folge wurde Heinrich zwar französischer König und Katholik, fiel aber einem Attentat zum Opfer, so wie sein Toleranzedikt von Ludwig XIV. wieder aufgehoben wurde. Bewältigt ist dieser Teil unserer europäischen Vergangenheit nicht. Sie ist nicht einmal richtig vergangen.
Mit einem Gedanken dieser Art setzt die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito ein. Während der Ouvertüre kommen die niedergemetzelten Hugenotten aus ihren Gräbern und bedecken den Boden wie ein Schlachtfeld. Sie nehmen damit das Finale schon vorweg.
Da zum eingespielten Regieduo auch die Raumerfinderin Anna Viebrock als Ausstatterin gehörte, durfte man von dem vor allem in Stuttgart erfolgreichen Trio neben sensibler Personenregie, einem scharfen Blick auf die Vorlagen bis auf die Subtexte und auch noch auf einen kongenialer Raum hoffen, der dem Ganzen eine zusätzliche Dimension hinzufügen würde.
… wie der Fanatismus die Massen ergreift …
Wieler und Morabito nehmen den Kampf mit der weitschweifigen Grand Opéra nicht nur beherzt auf, sie begeben sich dabei gleichsam in einen Nahkampf. Das heißt nicht nur mit, sondern auch in jeder einzelnen Szene. Jede ist für sich genommen gründlich durchgearbeitet und lässt kaum Leere oder Statik aufkommen. Und wenn doch der Chor in Formation an der Rampe zum Tableau aufmarschiert, dann ist das so durch choreographiert, dass es zu den stärksten Momenten des langen Abends wird. Zu den Ballettmusiken wird nämlich gezeigt, wie der Fanatismus die Massen ergreift. Es ist packend zu sehen, wie da der Wahnsinn zur materiellen Gewalt wird, wie er die Körper durchzuckt und wie mit Pelz und Putz aufgetakelte Damen zu einem blutgierigen Mob werden.
Anna Viebrocks Bühne imaginiert diesmal nicht wie in früheren Arbeiten einen Raum mit eigenem Charisma, sondern einzelne Thesen. Das Gefangensein in einem vermeintlichen Glauben und im Hass gegen die Andersgläubigen hat sie in martialische Architektur-Versatzstücken übersetzt. Links begrenzt eine hohe Mauer die Bühne, daneben befindet sich ein Gefängnistor. Riesige Säulen assoziieren einen übermächtigen Kirchenraum. Auf der rechten Seite stehen zwei Türme mit Peitschenleuchten, deren kaltes Licht an Wachtürme erinnert. Doch wenn durch die Entlüftungschlitze Rauch austritt, dann eröffnet das Assoziationsräume, die auch an die Vernichtung von Menschen denken lassen. Was in dieser indirekten Bildsprache noch stärker wirkt, als wenn ganz direkt Statisten mit erhobenen wie verfolgte künftige Mordopfer über die Bühne rennen. Zwischen diesen martialischen Versatzstücken gibt es Holzgestelle (irgendwo zwischen altmodischer Wandtafel und Guillotine), einen mit prunkvoll geschnitztem Holzgeländer begrenzten Galeriegang, Gestelle für altmodische Filmkameras, Regiestühle und einen mobilen Schminktisch mit mehreren Plätzen. Viebrock hat einen assoziationsoffenen Un-Ort der Zeichen und Bedeutungen geschaffen, der es aber – wider alle Erwartung gerade an diese geniale Raumerfinderin – nicht zu einem autonomen Charisma bringt.
Radikale Perspektivenwechsel
In der ersten Szene feiern die (katholischen) Herren eines illustren Tennisclubs sich selbst und ihre Gewissheiten. Die (protestantischen) Opfer vor ihren Füßen sehen sie nicht einmal. Nur deren Aktivist Raoul fällt mit seinem hässlichen und übergroßen Jackett überm blutigen Hemd zwischen ihnen auf. Im Habitus der Prototyp eines Außenseiters über den sich der Herrenclub lustig macht, bis ihn ein Brief erreicht, der ihn im Umkreis der Königin verortet. Plötzlich defilieren alle an ihm als vermeintlichem Günstling der Macht vorbei.
Dann gibt es den ersten radikalen Perspektivenwechsel von der angedeuteten Geschichte hin zu den Bildern, die wir davon im Kopf haben. Königin heißt hier – ein Star der Leinwand. Magarete von Valois beherrscht offenbar ein Filmstudio mit den entsprechenden Interieurs. Die Königin als Frau mit der Aura einer Diva. Oder eben: die Diva als Königin. Hier leitet sie offenbar auch das Casting und lässt die Bewerberinnen aufmarschieren. Oder sich ihre Wunschgarderobe vorführen.
Dass es Wieler hier um die Bilder geht, die wir uns von den Personen und Ereignissen der Geschichte machen, ist klar. Diese Ebene kulminiert in einem großen Auftritt von Henri Quatre und seiner Frau Marguerite de Valois samt Hofstaat in vollem Ornat. Eine historische Momentaufnahme. Oder, wenn es doch alles nur ein Film sein sollte, dann wird hier demonstriert, was der Fundus an Opulenz so zu zaubern vermag. Doch das wird durch den hereinstürmenden Raoul, der offensichtlich aus einer anderen Erzählebene kommt, durchbrochen. Also doch kein Film, sondern das Abbild einer Wirklichkeit, die auf die finale Katastrophe zusteuert, die das Anfangsbild schon verkündete? Dieser permanente, manchmal unvermittelte Wechsel der Ebenen, ist reizvoll aber auch irritierend.
Wenn sich Wieler die Szenen einzeln für sich vornimmt, dann lotet er sie als solche aus. Da hat der Page etwa einen Auftritt in Charlie Chaplin Manier. Oder aus einem Blinde-Kuh-Spiel der Frauen der Königin mit Raoul wird pure Alberei am Set.
Erst wenn Raoul der Diva bzw. Königin den Coup einer filmreifen Hochzeitsvermittlung vermasselt, in dem er die Hand von Valentine zurückweist (weil er deren Begegnung mit ihrem Ex missverstanden hatte), kippt die Stimmung in den Ernst der Lage, die hier eigentlich im Hintergrund waltet. Dass die verschmähte Braut Raoul eine scheuert, macht die Szene zu einem Eklat. Sein Verhalten widerspräche auch heutzutage noch allen guten Sitten – egal in welchem Kulturkreis. Wohl, weil es zumindest hierzulande keine Sache auf Leben und Tod mehr wäre, wird das Duell, das daraus folgt, zu einem Boxkampf heruntergestuft.
Es gibt viele aparte Details der Inszenierung, die Spaß machen. Wenn Valentine das erste mal auftaucht, dann macht sie das mit dem Charisma einer Catherine Deneuve. Wenn sie im eleganten Schwarz mit Sonnenbrille kommt, ist sie eine Diva, die Wert drauf legt, dass man denkt, dass sie nicht nicht erkannt werden will. Oder wenn sich Marguerite wie eine Filmproduzentin Raoul vornimmt, dann erinnert das an die Übergriffigkeit der Männer im Filmgeschäft, die heutzutage vor Gericht stehen.
Auch, dass jede der reichlichen Koloraturen der spielfreudigen Damen in szenische Aktion übersetzt wird, gehört zum Unterhaltenden der Produktion. Langeweile kommt jedenfalls nicht auf. Die mehrfach im Hintergrund am Telefon wild gestikulierende Katharina di Medici bleibt ein apartes Ornament für Kenner der Geschichte, das nicht wirklich ausformuliert wird. Bei allem Unterhaltungswert im Einzelnen bleibt der Wechsel zwischen den Erzählebenen und -zeiten jedoch nicht immer nachvollziehbar oder selbsterklärend.
Es wird nie langweilig
Die Milieus, die Wieler mit seiner Personenregie zeichnet, funktionieren für sich genommen. Deshalb wird es auch nie langweilig. Hinter jeder Säule und hinter jedem Schminkspiegel lauert schließlich eine jähe Wendung. Aber das Ganze kollidiert mit dem Stoff.
Wenn alle Messen gesungen sind und alle Hugenotten tot am Boden liegen, kreuzt die Königin auf dem mit Leichen übersäten Schlachtfeld des Wahns auf und beginnt sich schockiert ihr Königinnenkostüm vom Leib zu reißen. Dann lässt die Dunkelheit die Zuschauer mit etlichen offenen Fragen allein.
Musikalisch verbindet der Fünfakter wagnerschen Größenwahn mit italienischem Belcanto- und Emotions-Furor, fasziniert zugleich aber auch mit französischer Leichtigkeit, die die Sänger zu ihren Arien und Koloraturen und die Chöre zu ihren gewaltigen Ausbrüchen treibt. Marc Minkowski hatte schon vor neun Jahren in Brüssel musikalisch durch den Opernblockbuster geführt. Und er vermag es auch in Genf mit den Musikern des Orchestre de la Suisse Romande, mit seinem Furor der Sinnlichkeit und im schwelgerischen Auftrumpfen zu faszinieren.
Im Spiel zupackend und vokal koloraturverliebt füllt Ana Durlovski die Bühne als Marguerite de Valois. Mit Verve und Leuchtkraft macht Rachel Willis-Sørensen als Valentine de Saint-Bris die Reifung von der fremdbestimmten aber selbstbewussten Frau zur rückhaltlos Liebenden glaubhaft. John Osborn das höhen- und stilsichere Raoul de Nangis an ihrer Seite. Ihre Beziehung kulminiert in einem große Liebesduett, das es mit dem von Tristan und Isolde oder Dido und Aeneas aufnehmen kann.
Michele Pertusi stattet den optisch heruntergekommenen ideologischen Wortführer der Hugenotten im Stück, Marcel, mit der angemessen Wucht für sein „Eine feste Burg ist unser Gott“ aus. Laurent Alvaro profiliert den katholischen Scharfmacher Comte de Saint-Bris während Alexandre Duhamel dem Comte de Nevers mit der Würde des Anstands ausstattet.
Die Hosenrolle des Pagen Urbain, war schon für die damals 21jährige Yulia Lezhneva in Brüssel ein Karriere-Sprungbrett. In Genf vermag auch Léa Desandre aus dieser kleinen Partie etwas Großes zu machen.
Der von Alan Woodbridge einstudierte Chor meistert seinen konstituierenden Beitrag zu dieser großen Oper mit Präzision und Verve. Das Publikum in Genf verteilte seinen Beifall einigermaßen gleichmäßig. Wobei Marc Minkowski und die Protagonisten ganz zu Recht eine Extraportion abbekamen.