Am 15. November verstarb der Regisseur, Dramaturg, Musikwissenschaftler und Theaterleiter Peter P. Pachl nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 68 Jahren. Pachl wurde aus dem Proben zu seiner Inszenierung der Uraufführung von Anton Urspruchs Oper „Die heilige Cäcilia“ gerissen, die er in der Henrichshütte Hattingen vorbereitete. Die durch die Pandemie außerordentlich erschwerte Premiere am 21. November wurde zu einer Hommage für den leidenschaftlichen Opernentdecker und Autor der nmz.
„Die heilige Cäcilia“ hätte die bislang größte Produktion Peter P. Pachls nach der Aufführung von Max Reinhardts Stummfilm „Das Mirakel“ mit der von den Berliner Symphonikern gespielten Musik von Engelbert Humperdinck 2016 werden sollen. Die drei Vorstellungen der dritten Oper des Liszt- und Raff-Schülers Anton Urspruch (1850-1907) enden mit einer Festaufführung am 22. November zum Namenstag der titelgebenden Heiligen. Durch die auf das Publikum einprasselnde Projektionen-Inflation von Videos und Bildern wurde das Werk auch im Studio-Umfang groß: In Opern wie „Sonnenflammen“ (Bayreuth 2020), „Der Friedensengel“ (Bayreuth 2021) und jetzt „Die heilige Cäcilia“ ging es Pachl immer um Menschen, ihre Götter und ihre äußeren wie inneren Welten.
2020 zerschlug sich die Bayreuther Aufführung von Siegfried Wagners „Rainulf und Adelasia“, weil das vorgesehene italienische Orchester zwischen den Lockdowns nicht anreisen konnte. So wurde die Idee des „digitalen Orchesters“ geboren. Mittels der Software Sibelius generierte Ulrich Leykam bei den letzten Produktionen des pianopianissimo musiktheater die von ihm selbst dirigierten und zum Live-Gesang in passende Klangrelationen gebrachten Zuspielungen.
Kein Pachl-Projekt hatte bisher einen derartigen Vorlauf wie dieses von Bekehrungen, blutigen Foltern, balsamischen Harfenklängen und erotischen Anfechtungen strotzende Drama: In Münster 2018 eine Präsentation mit Veronica Kircher, der Enkelin des Komponisten und der Anton Urspruch Gesellschaft, 2019 Workshops in Berlin, im Januar 2020 ein Konzert mit Ausschnitten in Rom. Urspruchs Tonsatz ist oftmals chromatischer als man zu hören glaubt. Dem Zeitgeschmack folgend ergibt sich die gregorianisch anmutende Schlichtheit auf zweiter Ebene durch eine alles andere als simple kompositorische Erfindung mit oft ekstatischen Aufschwüngen.
Drei große Chöre sollten in Hattingen aufziehen für die dreistündige Märtyrerinnen-Tragödie, deren Text Anton Urspruch selbst verfasst und von dem er die Instrumentation nur des ersten Aktes für eine geplante konzertante Aufführung vollendet hatte. Alle Chöre sagten der Reihe nach seit Frühjahr 2021 ab. Dafür gewann man neben elf Mitwirkenden für die kleineren Solopartien einen zwölfköpfigen Projektchor, der auf dem Podium im Rahmen der Hygienekonzepte agieren konnte. Dominikus Burghardt leistete mit dem Ensemble nicht nur gemessen am Rekord-Umfang der Chorpartien, sondern auch betreffend die mehrfach geteilten Stimmgruppen, Immenses. Als Pachl die Proben nicht weiterführen konnte, stürzte sich der Regieassistent Chang Tang mit dem Mut der Verzweiflung in die Regie. Er machte die visionär-phantastische Ideenflut Pachls für „Die heilige Cäcilia“ zu einer Durchlaufprobe als Theater auf dem Theater. Das war in dieser Notsituation die einzige Möglichkeit, um die Dimension der Produktion im Rahmen von Jüdisches Leben in Deutschland 2021 nicht zu beschädigen. Im langen Schlusschoral wandelte Chang Tang selbst als nackter Märtyrer durch die spärlich besetzten Zuschauerreihen.
Die toten Christen wurden, in Projektionen von Buchenwald und historischem Filmmaterial der gewaltsamen Abtransporte verdichtet, auch als Opfer des Holocaust erkennbar. Im Rückblick auf die sich nach 1900 bündelnden Kraftfelder faschistischer Ideologien ist die Heiligenoper des Sohnes eines protestantischen Vaters und einer zum Katholizismus konvertierten Jüdin tatsächlich bedenklich. Pachls und Tangs Inszenierung reflektiert in der Christenverfolgung auch die Massenvernichtung von Menschen in einer Flut von bösen, sarkastischen, ästhetisch verfremdeten und assoziationsreichen Bildern. Der Trevi-Brunnen gerät zur virtuellen Schaubühne. Auf die Verklärung folgt die das Finale aus dem nur-christlichen Kontext ziehende und panreligiös deutbare Himmelsscheibe von Nebra.
Das digitale Orchester und Video-Beschüsse weiteten sich in Hattingen leider nicht zum Blitzkrieg gegen Zuschauernerven wie im räumlich gedrängten Bayreuther Reichshof oder den viel kleineren Raumdimensionen eines Subventionstheaters. Man saß zu entfernt in dem riesigen Areal, als dass die die mit Robert Pflanz entwickelten geballte Assoziationsenergie aus historischen, künstlerisch modellierten und auch Uralt-Pornos verwendende Material zum Spiegel des menschlichen Seins und dessen animalisch-ethischer Sprunghaftigkeit hätte werden können.
Wieder einmal hatte Pachl nicht gezögert bei einem Stück, dessen Schwierigkeiten anderen Theaterzauberern schlaflose Nächte bereitet hätten. Im letzten Akt folgen auf Cäcilias lange Harfen-Hymnen ein gefühlt viertelstündiger Trostchor sowie ein in Wagners „Götterdämmerung“-Farben glühender Schuld- und Sühne-Monolog ihres Fast-Vergewaltigers Almachius. Uli Bützer singt diesen mit prachtvoll gesundem Bariton. Anstelle des erkrankten Hans-Georg Priese stürzte sich Marco Antonio Lozano in die erwartbar strapaziöse Tenor-Partie von Cäcilias heldischem Bräutigam Valerian. Im einem Duett von „Tristan“-Dimensionen bekehrt Cäcilia den ihr zugedachten römischen Helden Valerian zum wahren Glauben. Dabei spart sie nicht an Mystik-Vokabular aus wilhelminischen Wohnsalons. Urspruchs Musik ist weniger dran an Wagner als an Humperdincks Diatonik und dessen kontrapunktisch formvollendeter Orchestrierungskunst. Viele Wohlklang-Akkorde braucht es zum Schwerterklirren, wolkigem Harfenklimpern und Blutlachen auf weißen Tuniken wie der von Cäcilias Schwager Tiburtius (edel und gut: Reuben Scott). Die Kostüme von Christian Pflanz sind Patchwork und textiles Puzzeln, das Bettwäsche zu Herrschermänteln zaubert und stramme Legionäre in Lycrashorts klemmt. Cäcilia die Heilige ist der leuchtende Komet in diesem klerikalen Karneval und ein weiterer Glanzmoment für Rebecca Broberg, ohne die seit Siegfried Wagners „Der Kobold“ im Stadttheater Fürth kaum eine Pachl-Inszenierung auskam.
Peter P. Pachl war nie etwas für schwache Sängernerven, so auch nicht bei einem vermeintlich unverfänglichen Sujet wie „Die heilige Cäcilia“. Sein Opernverständnis war mehr als dekorativ und opulent, provokativ allenfalls ganz selten. Es wurde Pachls Schicksal, dass ihn viele Rezipient*innen bei seinen fürwahr ironischen Erkundungen nicht begleiten konnten, weil er literatur-, musik- und geisteswissenschaftlich global zu denken wusste und solches Denken zwangsläufig nicht nur zu schönen Ergebnissen führen konnte. Seine einmalige Herangehensweise, ob genehm oder nicht, hinterlässt eine große Lücke.