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Pizzeria anarchia an der Neuköllner Oper. Foto: Vincent Stefan
Pizzeria anarchia an der Neuköllner Oper. Foto: Vincent Stefan
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„PIZZERIA ANARCHIA“ an der Neuköllner Oper Berlin

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Besetzen oder besitzen, was ist moralischer? Das ist die Frage in der jüngsten Uraufführung der Neuköllner Oper Berlin, die sinnigerweise mit den Musiktheatertagen Wien, dem Teatro della Tosse, Genova und dem dort residierenden nomadenhaften Balletto Civile kooperiert. In allen drei Städten gibt es Hausbesetzungen und Migrationsghettos, die Fragen nach Freiheit und Macht, Besitz und Menschlichkeit aufwerfen.

Es geht um einen exemplarischen Wiener Fall von Hausbesetzung, der genauso gut in Berlin wie in Genua hätte stattfinden können: Ein Wohnhaus aus dem 19.Jahrhundert in der Mühlfeldgasse im Wiener Gemeindebezirk Leopoldstadt war zweieinhalb Jahre lang von Punks besetzt. Ihnen war ursprünglich von den Hauseigentümern selbst angeboten worden, unentgeltlich für ein halbes Jahr einzuziehen. Die vermeintlichen Störenfriede sollten die letzten Mieter des Hauses gewissermaßen hinausekeln, trotz der rücksichtslosen und illegalen Aktionen der Hauseigentümer, damit das Haus danach umgebaut, saniert und gewinnbringend verwertet werden könnte.

Die Neo-Bewohner solidarisierten sich jedoch mit den Altmietern und blieben nach Ablauf der Halbjahresfrist. Sie gründeten die Anarcho-Gemeinschaft „Pizzeria Anarchia“, eine Volksüche mit selbstgemachter Pizza, nebenher organisierten sie jeden Dienstag politische „Filme unter der Hand“, Diskussionen, Infoveranstaltungen, Straßenfeste und betrieben eine Fahrradwerkstätte. Eine wahre Erfolgsgeschichte. Dennoch wurde einer Räumungsklage der Hauseigentümers, der Castella GmbH stattgegeben. Das Haus wurde am 28. Juli 2014 geräumt. Der Einsatz mit über 1.454 Polizisten gegen 19 im Haus verschanzte Punks kostete den Staat 870.000 Euro. Nach dem Einsatz erfolgten 31 Festnahmen und 55 Anzeigen gegen die „Punks“. Den Altmietern wurden Gas und Wasser abgedreht, außerdem die WC-Anlagen unangekündigt entfernt. Eine Farce, und doch Realität.

Parabel über Freiheit und Machtverhältnisse, Anarchie und Menschlichkeit

Texter Thomas Desi, Choreographin und Regisseurin Michela Lucentini vom Balletto Civile und Neuköllner Opern-Dramaturg Bernhard Glocksin haben aus dem geradezu absurden Fall, der wie eine trashige Komödie klingt, durch Überzeichnung und Stilisierung eine szenische Groteske entwickelt, eine gesellschaftskritische Parabel über Freiheit und Machtverhältnisse, Anarchie und Menschlichkeit. Fern von Aufklärungstheater oder szenischer Dokumentation orientiert man sich eher an Comic und Grafic Novel. Musik für einen Baritonsänger (Benoit Pitre), Altsaxophon sowie Bassklarinette (Florian Bergmann), und E-Gitarre (Alberto Cavenati), Dialog (deutsch, englisch, italenisch) Bewegung und Tanz ergänzen sich zu einer wilden wie zärtlichen Form von Musiktheater, in der die sieben virtuosen Tänzer des Balletto Civile auf die ihr eigene, an Comedia dell Arte erinnernden Körpersprache von Punks, anarchischen Hunden, Pizza essenden Affen, Mozart singenden Polizisten und von der lustvollen Freiheit des Menschen erzählen.

Man vertanzt auf nahezu leerer Bühne nicht nur Texte von Thomas Desi, sondern auch von „linken“ Klassikern wie Proudhon, Bakunin und Pasolini. Michael Emanuel Bauer hat dafür eine stilistisch alle Register ziehende Musik geschrieben, eine Melange aus Alltagsgeräuschen, Jazz, Punk, Rock und diversen Idiomen des Musicals. Das ist souveräne, starke, gestische, stampfend rhythmische Bühnengebrauchsmusik. Aber sie weiß mehr, als sie vorgibt. Mozart „Cosi fan tutte“, „Le Nozze de Figaro“, Ravels Bolero, Gospel und alpenländische Volksmusik lassen grüßen, aber auch Alte und Neue Musik. Ein großer Bogen wird geschlagen, nicht nur musikalisch. Auch szenisch weitet sich die politisch agitprophaft daherkommende, über Gentrifizierung, die Skrupellosigkeit der Reichen, die Unverhältnismäßigkeit staatlicher Machtausübung und das Bedürfnis eines Jeden nach menschenwürdigem Wohnraum räsonierende Musiktheater durch eine konkrete erotische Rahmenhandlung zwischen Inspizientin und Sänger, aber vor allem durch die brillante italienische Bewegungsheatertruppe und ihre menschlich-allzumenschliche Beschwörung der Freiheit zum warmherzig-animierten wie animierenden Spiel mit Theater auf dem Theater.

Neuköllner Oper Berlin: PIZZERIA ANARCHIA
Uraufführung /Premiere 15.10.2015

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