Das Gärtnerplatztheater München schleudert eine Liveübertragung nach der anderen ins Netz. Nach „Hänsel und Gretel“ und „Anna Bolena“ ist die Online-Premiere von Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ die vorerst einzige Hommage zum 100. Jahrestag der Uraufführung des musikalischen Lustspiels im Berliner Theater am Nollendorfplatz am 15. April 1921. Am Staatstheater Nürnberg fiel die Inszenierung von Vera Nemirova aus, das Theater Nordhausen steht mit Anette Leistenschneiders fertiger Inszenierung für das Ende des Lockdowns in den Startlöchern. Lukas Wachernig machte in München aus den „Wilden 1920ern“ die „Wilden 1960er“.
Neben dem Pool dreht ein Schwein am Spieß, die Jungen gehen baden und die Älteren treiben zwischen ihren Völlereien Gymnastik. Onkel Josse (Erwin Windegger) und Tante Wimpel (Dagmar Hellberg) sind durch die Edelfresswelle so drall und rund, dass bei ihnen vorne und hinten kaum mehr unterscheidbar ist. Trotzdem machen sie, abwechselnd in Voll-Pink oder Bunt, jede Tanzerei mit und sind auch sonst ganz kregel. Immer wieder schießt der steirische Regisseur Lukas Wachernig das ganze Figurenarsenal aus der neureichen Vorgartenlandschaft auf den Mond. Karl Fehringer und Judith Leikauf setzten Fliegenpilz mit Gartenzwerg ans traute Heim und einen Wachtturm, wie er vor einigen Jahren ein Lieblingsdekor ambitionierter Opernregie war, davor. Dagmar Morell verschwendete Zentner von Pailletten und Glanzstoffen in die knallbunten Kostüme. Es glitzerte wie bei Abba-Konzerten und die jungen Kerle schauten sich die Nickelbrille unterm Pilzkopf natürlich bei den Beatles ab. Obwohl die reichen Kuhbrots Batavia, Belgrad und Beirut nicht unterscheiden können, zeugt das Anwesen von internationaler Materialvielfalt. Aufblasbare Plastik-Palmen und -Ananas tragen einen Hauch Acapulco ins traute Heim.
Hier verfließen die Traumwelt von Julia de Weerts romantischer Schwärmerei zur nach Batavia entschwundenen Sandkastenliebe Roderich und saturiertes Wirtschaftswunder. Der Batavia-Fox hebt musikalisch ab in einer gemeinsamen Shisha-Runde, bei welcher sich der Identitätsschwindel des ersten Fremden August mit pastellfarbenen Wölkchen verflüchtigt. Lukas Wachernig sind die in Text und Musik beschworenen Kontraste der spießigen Nähe zu den lunaren und batavischen Fernen egal. Sekundenschnell wie im frühen Farbfernsehen wechseln die Welten, revueartige Flüchtigkeit ist alles. So durchwirbeln minimal von gendercorrectness angeblässelte Typen die Szene. Die Inszenierung hat Panoramaqualitäten und wischt über die Figurendetails im Textbuch von Herman Haller und Rideamus mit dem dekorativen Pinsel hinweg. Poetische Momente entstehen im Einklang mit dem visuellen Ambiente.
Natürlich ist dieses Werk erstklassige Knetmasse für ein operettenversiertes Haus wie das Gärtnerplatztheater, aber Künnekes intelligente Musikkontraste kommen in Wachernigs Inszenierung nicht so recht zum Zug. In der Einrichtung des Dirigenten Andreas Kowalewitz für 15 Musiker steckt alles von der witzig bis atmosphärischen Instrumentation drin. Über die romantischen Töne des ersten Finales gleitet Kowalewitz zügig hinweg. Im zweiten und dritten Akt erfreuen sich alle an den lautstarken Stellen, die Piani driften nie ins Sentimentale. Künnekes Musik wirkt immer, also auch ohne subtilen Nachdruck. Vor allem, wenn man solche Sänger dafür hat. Absolut gleichwertig sind Daniel Gutmann (Egon von Wildenhagen), Judith Spießer (Julia de Weert) und Julia Sturzlbaum (Hannchen). Gesungen wird sehr schön. Hier gibt hier keine Unterscheidung in leichte und nicht ganz so leichte Stimmen. Das überwiegend österreichische Ensemble verzichtet auf die Berliner Kanten und tappt dennoch nicht in die Schmäh-Falle. Ein Tenor mit Charakter: Maximilian Mayer verkörpert einen selbstsicheren Verführer mit sängerischer Ausstrahlungsgarantie. In der durch Adam Coopers Choreografie flott bewegten Produktion gibt es keine Nebenrollen. Stefan Bischoff (Zweiter Fremder) machen wie Peter Neustifter (Karl) und Holger Ohlmann (Hans) beste Figur. Bei Youtube hagelte es wieder begeisterte Chat-Zuschriften. Erwähnt sei ein Kommentar von Aloisius Vroninger, der beim parallelen Gucken den „Vetter“ vom Gärtnerplatz kurzweiliger fand als Barenboims Beethoven-Tribut aus Berlin-Mitte.
Am 31. Dezember um 18.00 Uhr folgt als nächster Live-Stream des Gärtnerplatztheaters die 2019 uraufgeführte Revueoperette „Drei Männer im Schnee.“