Wo trifft sich die Musikwelt Sommer für Sommer? Gewiss, in Bayreuth und Salzburg nebst einigen weiteren Stätten, die illuster genug und international seit langem bekannt sind. Aber Moritzburg, das Städtchen mit dem berühmten Schloss vor den Toren von Dresden? Moritzburg ist vor allem ein Treff für Musikerinnen und Musiker aus aller Welt, die enorme Talente sowie ein großes Herz für die Kammermusik haben. In diesem Geist des gemeinsamen Musizierens setzen sie in der sommerlichen Musikwelt ein Zeichen.
Wenn es das Moritzburg Festival nicht schon gäbe, es müsste erfunden werden. So traut und nah fügt sich hier landschaftliche Schönheit mit architektonischen Reizen zusammen, wie geschaffen für musikalische Kostbarkeiten und künstlerische Qualität. Aber glücklicherweise ist diese Erfindung längst schon geschehen und Jahr um Jahr ausgebaut worden. Vom einheimischen Publikum dankbar angenommen, längst auch zum touristisch lohnenden Ziel avanciert und vor allem zum gefragten Stelldichein einer jungen Interpreten-Elite aufgestiegen.
Das 1993 gegründete Festival steht seit nunmehr zehn Jahren unter der alleinigen Leitung des Cellisten Jan Vogler. Dem wurden 2008 auch die Dresdner Musikfestspiele anvertraut. Trotz der räumlichen und auch zeitlichen Nähe behielten beide Musikfeste bislang ihr eigenes Profil.
Was für Moritzburg spricht, ist vor allem die Leichtigkeit. Die freilich nicht zu Lasten von Anspruch erkauft ist. Daneben die jugendliche Frische, die wie selbstverständlich mit höchstem Leistungsstandard gepaart ist. Und als Bindeglied für derlei Qualitäten steht – ganz ohne Abgehobenheit – die Originalität der musikalischen und interpretatorischen Substanz. Mit gewagter Entdeckerfreude wird am Programm gestrickt, das kammermusikalische Glanzstücke in sich birgt, keine Scheu vor dem 20. und auch keine vor dem 21. Jahrhundert kennt, um aus dem unermesslichen Fundus der Literatur wieder einige Raritäten neben die allbekannten Ohrwürmer zu setzen. Damit leistet das Moritzburg Festival sogar noch einen lehrreichen Beitrag.
Vor allem aber sind es der Geist und die Lust am gemeinsamen Musizieren auf höchstem Niveau, mit denen dieses sommerliche Ereignis zum kunstvollen Fest wird. Die Zahl der Bewerbungen steigt jährlich, nur die besten der Besten haben eine Chance – und Jan Vogler räumt ein, dass im Zweifelsfall der Jugend, dem Entdecken neuer Talente, der Vorzug gegeben wird. So standen denn auch im aktuellen Jahrgang große Namen – etwa die Pianistin Alica Sara Ott, der Bratscher Nils Mönkemeyer, die Sängerin Ruth Ziesack, der Geiger Frank Peter Zimmermann – neben Neulingen, die freilich dabei sind, sich einen ebenbürtigen Namen zu erspielen.
Zum Auftakt geht das Kammermusikfestival alljährlich auf Tour, stellt das Programm des Eröffnungskonzerts schon mal im Theater von Bad Elster vor. Damit verbunden ist eine kurze, aber höchst intensive Probenphase der diesmal 38 Musiker aus 15 Nationen. Dieses eigens so gebildete Festival-Orchester debütierte unter der estnischen Dirigentin Anu Tali, die ungemein präzise durch eine Bearbeitung von William Byrds „Agnus Dei“ führte, Alfred Schnittkes Concerto Grosso Nr. 1 zum Erlebnis machte und einmal mehr um die Aberkennung des Beinamens „Tragische“ für die 4. Sinfonie von Franz Schubert rang. Neben Dresdens Frauenkirche und Konzerten beim Sponsor Gläserne Manufaktur von Volkswagen, wo regelmäßig auch Familienkonzerte stattfinden (diesmal ein vergnüglicher Ausflug mit „Gullivers Reisen“), sind die Kirche und das Schloss von Moritzburg Hauptaustragungsorte des sehr familiären Festivals. Publikum und Künstlergilde muten mitunter wie eine aufeinander eingestimmte Gemeinde an. So scheint es schon kaum mehr erstaunlich, dass die Veranstalter zum Abschluss von einer 97-prozentigen Auslastung sprachen. Sie haben damit etwa 6.600 Musikenthusiasten erreicht.
Nicht nur Jan Vogler und seine Frau Mira Wang absolvieren in diesen Tagen ein Mammutprogramm – sie sind Macher vor und hinter den Kulissen, sind Interpreten in diversen Ensembles und agieren solistisch auf hohem Niveau. Nie aber fand sich eine Abgehobenheit „großer Namen“, stets stand das Miteinander im Vordergrund. In einer Art Picknick-Atmosphäre reihten sich da Bach und Penderecki aneinander, sowieso Haydn, Dvorák und Strauss, wurde aber auch der britische Schwerpunkt mit Werken von Henry Purcell über Edward Elgar, Frank Bridge Arnold Bax und Benjamin Britten bis hin zu John Tavener gesetzt. Auch der diesjährige Composer-in-Residence, wiewohl ein gebürtiger Dresdner, fügte sich in dieses Motto. Denn was da von Torsten Rasch (Jg. 1965) aufgeführt worden ist, entstand ausnahmslos für das britische Two Moors Festival, wo Rasch („Mein Herz brennt“) 2009 im selben Ehrenamt tätig war und sein 1. Streichquartett sowie „Die träumenden Knaben“ zu einem Text von Oskar Kokoschka schuf. Mustergültige Interpretationen auch dieser erstaunlich emotionalen Kompositionen zählten zum Moritzburger Selbstverständnis.
Man kann in diesem Festival auch eine Art Schule sehen, eine Schule fürs Leben. Die jungen Künstlerinnen und Künstler profitieren von der Begegnung mit ausgewiesenen Könnern, sie bilden Netzwerke und erarbeiten sich Referenzen, von denen noch lange gezehrt werden kann. Und dem Publikum wird ganz unaufdringlich vermittelt, wie es auch gehen kann. Kein Best Of der klassischen Literatur, sondern kernige Ohrwürmer im Einklang mit Raffinessen der Moderne. Das bildet. Und bindet.