Werden wir uns jemals an diese von der Politik so viel beschworene „neue Normalität“ gewöhnen? Maskenpflicht, Abstandsgebot und eifriges Händewaschen sind den meisten wohl schon selbstverständlich geworden, wenn auch mit Murren. Denn solange diese Regeln Alltagshandlungen wie Einkaufen und Busfahren betreffen, sind sie zwar lästig und fressen Zeit, beeinträchtigen aber das Wohlbefinden nur bei relativ prosaischen Verrichtungen. Aber schon im Restaurant oder im Café rühren sie an den Kern des eigentlichen Zwecks: Etwas Angenehmes in naher menschlicher Gesellschaft zu tun. Denn die Nähe darf sich nicht einstellen. Im Konzerthaus Dortmund war nun zu ahnen, wie sich das Musikleben mit Corona hoffentlich nicht allzu lange anfühlen wird. Reportage und Konzertkritik von Regine Müller.
Denn dort gab es das erste richtige Sinfoniekonzert mit einem ausgewachsenen Orchester und einem „normalen“, nicht kammermusikalisch heruntergehungerten Programm zu erleben. Und obwohl mit Corona Konzerte nicht länger als 90 Minuten dauern dürfen und frugal ohne Pause präsentiert werden, muss man im Grunde genauso viel Zeit investieren wie für ein normales Konzert vor Corona. Denn die komplizierte Logistik kostet auch einiges an Zeit. So gleicht das Konzerthaus nun einem Hindernisparcours: Es ist nur ein Eingang geöffnet, Pfeile auf dem Boden weisen drinnen den Weg, auf den Karten ist eine Einlassgruppe vermerkt, die Wege sind mit Absperrbändern begrenzt, Ausscheren wird freundlich, aber bestimmt unterbunden. Die äußerst hilfsbereiten und sehr zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lauschen ständig angestrengt darauf, was die Stimme aus dem Knopf im Ohr anweist, für das Publikum herrscht strenge Maskenpflicht, bis die Saaltüren sich schließen.
Die Chronistin hat einen Platz im ersten Balkon erwischt, dort wird jeder einzeln eingelassen. Maximal zwei Menschen (aus dem gleichen Haushalt) dürfen nebeneinandersitzen, mindestens zwei Plätze bleiben zu beiden Seiten frei, davor und dahinter bleibt Luft. Hat man das geschafft, atmet man unwillkürlich auf.
Einige Musiker des Konzerthausorchesters Berlin sitzen bereits auf der Bühne und spielen sich ein. Auch hier wird akkurat Abstand gehalten, Plexiglas-Wände sind zwischen ihnen aufgebaut. Endlich schließen sich die Saaltüren, die Masken dürfen fallen. Dann betritt Intendant Raphael von Hoensbroech die Bühne und kalauert „Ich hoffe, Sie haben genug Platz?“ Dann wird er aber gleich ernst und redet kurz und eindringlich über Systemrelevanz und zieht es vor, die Musik als systemimmanent zu bezeichnen.
Systemimmanenz
Und dann wird es ernst: Mirga Gražinytė-Tyla, derzeit Exklusivkünstlerin im Konzerthaus Dortmund und selbst von Corona genesen hat ein sinnfälliges Programm zusammengestellt, in dem auf das „De Profundis“ der litauischen Komponistin Raminta Šerkšnytė das Cellokonzert in C-Dur von Joseph Haydn und Beethovens Vierte folgt. Im Laufe dieser Abfolge steigert sich die Besetzung des hoch konzentriert spielenden Konzerthausorchesters von einer reinen Streicherbesetzung bis zu sinfonischer Besetzung, wenn auch in quasi historisch informierter Schlankheit: Bei Beethoven sind jeweils sechs erste und zweite Geigen auf dem Podium, drei Bratschen, drei Celli und zwei Kontrabässe. Respektvoll isoliert sitzen die Hörner, ihr Kondenswasser ist gefürchtet.
Mirga Gražinytė-Tyla geht bereits das elegisch temperierte Werk ihrer Landsmännin mit energischem Zugriff an. Schon die ersten Klänge fahren unmittelbar unter die Haut. Endlich wieder ein satter live-Klang, keine Streaming-Diät! Sehr schnell wird deutlich, dass die zu Recht viel gerühmte Dortmunder Akustik auch diese Probe besteht. Zwar sind nur 360 Gäste im Saal, was nicht einmal einem Viertel der Auslastung entspricht. Aber selbst der so schwach besetzte Saal klingt noch nicht überhallig. Freilich klingt er viel mehr nach als sonst, was den Streicherklängen etwas schwebend Immaterielles gibt. Aber er ist noch steuerbar.
Bei Haydns Cellokonzert, das Kian Soltani mit intensivem Ton und musikantischer Verve gibt, gesellen sich Holzbläser dazu aufs Podium. Insbesondere die Oboen klingen nun fast überpräsent, ihr gebündelter Klang verschwebt nicht, sondern wirkt noch knackiger als sonst. Und dann Beethoven: Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert aus einer Taschenpartitur und setzt auf eine flotte, aber nicht harsche, überpointiert raue Lesart mit viel Emphase und idealistischem Schwung. Das Orchester sitzt auf der Stuhlkante, denn die Abstände erfordern höhere Aufmerksamkeit, da der Zusammenklang nicht durch unmittelbaren Kontakt erleichtert wird. Im Sinne historisch informierter Durchhörbarkeit bietet die Corona-Sitzordnung durchaus Vorteile, denn die einzelnen Instrumentengruppen grenzen sich – teils ungewollt – scharf voneinander ab. Das Ergebnis ist eine maximale Transparenz, die aber gelegentlich übers Ziel hinausschießt. Denn auch untergeordnete Stimmen treten jetzt gleichberechtigt hervor. Das führt dazu, dass eine gewisse Kompaktheit des Gesamtklangs als Ausdruck eines gestalterischen Willens irgendwie fehlt. Was nicht an Gražinytė-Tyla liegt, die hoch präzise Zeichen gibt und überhaupt jederzeit Herrin der Lage ist. Der Klang wirkt insgesamt in seinem luftigen Verströmen irgendwie indirekt. Und zugleich sakral unnahbar wie in einer romanischen Kirche, nur ohne deren Nachhalleffekte.
Überhaupt ist die Stimmung im Saal mehr als andächtig, eine Mischung aus respektvoller Stille und Konzentration. Selbst in den Umbaupausen wird nicht gesprochen, es bleibt mucksmäuschenstill im Saal. Und sogar das Husten zwischen den Sätzen haben alle in der Zeit der Corona-Hustenpanik verlernt. Nicht einmal Bonbonpapiere rascheln, niemand lässt etwas fallen. Das darf ruhig so bleiben. Aber eine echte Konzertstimmung, die will sich einfach nicht einstellen. Denn ein jeder sitzt für sich allein. Daran werden wir uns nicht gewöhnen.