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Mio, mein Mio | Katja Bildt, Javier Ferrer Machin, Daniela Gerstenmeyer, Mitglieder des Kinder- und Jugenchors des Theaters Erfurt | Foto: Lutz Edelhoff
Mio, mein Mio | Katja Bildt, Javier Ferrer Machin, Daniela Gerstenmeyer, Mitglieder des Kinder- und Jugenchors des Theaters Erfurt | Foto: Lutz Edelhoff
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Samt-und-Brokat-Partitur: Peter Leipolds Oper „Mio, mein Mio“ in Erfurt

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Peter Leipolds üppige Oper „Mio, mein Mio“ nach dem Kinderbachklassiker von Astrid Lindgren hat nach der Uraufführung im Theater Erfurt alle Voraussetzungen für einen großen Erfolg im schmalen Segment von Kinderopern für die große Bühne. Die nächste Uraufführung ist schon geplant. Leipolds Kammeroper „Der goldene Brunnen“, nach Otfried Preußler folgt in Erfurt in der Spielzeit 2022/23. Bei ihm haben Kinder das gleiche Recht auf einen musikalischen Vollrausch wie Erwachsene.

Als Josef Achtelik 1912 „Peterchens Mondfahrt“ von Gerdt von Bassewitz vertonte, war das damals Gegenwartsliteratur. Wenn jetzt, wegen Corona um eine Spielzeit verzögert, der dirigierende Komponist Peter Leipold (geb. 1987) und seine Regie führende Librettistin Friederike Karig im Theater Erfurt „Mio, mein Mio“ als abendfüllende Kinderoper zur Uraufführung bringen, widmen sie sich einem Klassiker. „Mio, mein Mio“ von Astrid Lindgren erschien 1954 und bediente sich an Motiven aus „Prinz Florestan oder die Geschichte vom Riesen Bam-Bam und der Fee Viribunda“ von Anna Maria Roos (1908).

Ein Stoff, bei dem nichts schief gehen kann: Der von seinen Zieheltern mies behandelte Mio gerät in ein Zauberreich, wo er seinen königlichen Vater trifft, dessen Feinde schlägt und einen echten Freund gewinnt. Ein Opernstoff, aus dem die Träume sind – Lindgrens strophische Wortreihungen eignen sich bestens zur Vertonung. Zudem geht es bei der schwedischen Kinderbuchautorin um ein Reich, in dem Musik schwingt und das deshalb für die Musik einer Oper sogar Regieanmerkungen bereithält. Peter Leipold lässt sich mit Mut und Demut darauf ein. Einerseits überträgt er Lindgrens Formstrukturen in seine Motivik und Vokalsätze. Er findet die genau richtige Ebene dafür, dass er mit kompositorischen Autonomiedemonstrationen die Strukturen der Vorlage nicht vernichtet. Aber andererseits lässt er seine Kreativität durch diesen künstlerischen und formalen Respekt vor Lindgren auch nicht fesseln.

Die Hauptfiguren Mio und Jum-Jum sind bei dieser Uraufführung eine vielleicht gar genderfluid denkbare Fortsetzung von „Hänsel und Gretel“. Die Sängerinnen müssen sich mit im Idealfall leichten Stimmen gegen hochschlagende Orchesterwogen stählen wie Engelbert Humperdincks Protagonisten im fälschlicherweise als ideale Kinderoper bezeichneten Märchenspiel. Daniela Gerstenmeyer (Mio in hoher Sopranlage) und Katja Bildt (Jum-Jum) zeigen sich Leipolds beträchtlichen Anforderungen vollauf gewachsen. Weil sie das tun, werden die vom Komponisten gar nicht verschwiegenen Analogien zu „Hänsel und Gretel“ noch deutlicher.

Das breite Portal und der Orchestergraben lassen manches etwas gröber erscheinen als es ist. Trotz des etwas flächigen Architektursalats von Stufen, Toren und Flächen (Bühne und Kostüme: Azizah Hocke) bleiben Nischen für Poesie. Eigentlich hätte Peter Leipold auch noch das Honorar für‘s Light Design erhalten müssen, so leuchtet die Musik aus dem philharmonischen Orchestergraben und macht das konturlose Leuchten auf der Bühne vergessen. Im zweiten Teil, wenn man Leipolds Strophen-System über Lindgrens Wortperioden verstanden hat, verliert die Musik minimal von ihrer plastischen Opulenz, wie wenn am Grund eines Pina Colada XXL sich die aufgelösten Eiswürfelreste in die Konsistenz schieben. Die letzte Viertelstunde ist es also nicht mehr ganz so betörend, aber noch immer ausreichend wirkungsvoll bis zum knappen Schlussgesang. Es gibt Klangkörper, die Leipolds Samt-und-Brokat-Partitur besser zu honorieren wüssten als das Philharmonische Orchester Erfurt.

Wie viele Väter-Partien gibt es schon für potente lyrische Tenöre? Immer wenn Mios Vater sein „Mio, mein Mio“ singt, hat das vom charismatischen Brett Sprague Erlkönig-Qualitäten. Wenn Mio und Jum-Jum zum Schwertschmied (Jörg Rathmann) und den Ritter Kato (Juri Batukov) kommen, macht sich das textile Prinz-Eisenherz-Outfit für Lindgrens Einmal-und-so-nie-wieder-Märchen ausgezeichnet. Der Kinderchor – sogar da lässt Humperdinck grüßen – ist rhythmisch stark gefordert, auch pantomimisch (Leitung: Cordula Fischer). Carolina Krogius, Sarah Hayashi und die anderen Ensemble-Mitglieder tragen zum guten Gesamteindruck bei.

Auch weil Friederike Karig in ihrer Regie mehr auf klare dramatische Wegspuren und lineare Markierungen setzt denn auf ausgetrickste Symbolik, bleibt die Musik die flutende schöne Hauptsache. Leipolds Präsenz ist stark, stellenweise sogar überstark und doch nicht überladen. Tatsächlich komponierte er mit großer Liebe zu einer von rhythmisch-koloristischen Pointierungen durchsetzten Tonalität – so, als hätte er nie von Norbert Schultzes „Schwarzer Peter“, Carl Orffs „Der Mond“, Peter Maxwell Davies' „Cinderella“ oder Wilfried Hillers „Peter Pan“ gehört.

Was Leipolds Liebe zum Geist der Spätromantik unbedingt vor hohlem Eklektizismus und Absturz bewahrt, sind seine außerordentliche Inbrunst, seine Begeisterung und Befähigung zu begeistern. Er macht Lindgrens Fabellandschaft zu einem Traum, der nicht wirklich sein kann. Bei aller vital und kräftig genutzten Besetzungsfülle hat seine Musik beglückende Intuition, Energie und Flughöhe mit Format. Leipold ist weder pädagogischer Scharlatan noch Verbündeter von Helikopter-Eltern. Ohne beschwichtigende Vorsicht haben Kinder hier gleiches Recht auf musikalische Rauschhaftigkeit wie Erwachsene.


  • Besuch der Generalprobe: 21. April 2022 / 18:00 – Premiere: 23. April 2022

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