Es ist Zufall, aber bezeichnend: einen Tag vor der Amsterdamer Premiere von Hans-Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ haben sich im Pariser Louvre Umweltaktivisten der Gruppe "350.org" vor dem berühmten gleichnamigen Gemälde von Theodore Gericault auf den Boden gelegt. Sie wollten damit auf Opfer des französischen Ölriesen Total aufmerksam machen, der das Museum sponsert. Es ist die ungebrochene Magie dieses Gemäldes, bei dem exemplarisch ein für die meisten Betroffenen erfolgloser Überlebenskampf nach einer Katastrophe festgehalten ist. Im Augenblick des Erschreckens danach.
Als Henzes Oratorium am 9. Dezember 1968 in Hamburg uraufgeführt werden sollte, geriet das Werk in eine Flutwelle politischen Aufbegehrens der damaligen, vor allem studentischen außerparlamentarischen Opposition. Die Widmung seines Werkes für die gerade umgekommene Guerilla-Ikone Che Guevara und eine rote Fahne neben dem Dirigentenpult reichten damals aus, um die mit Edda Moser und Dietrich Fischer-Dieskau solistisch luxuriös besetzten Uraufführung platzen zu lassen. Dazu: der Protest des RIAS-Kammerchores aus der „Frontstadt“ des kalten Krieges Westberlin gegen die rote Fahne; ein rabiat überzogener Polizeieinsatz samt Verhaftung des Librettisten Ernst Schnabel. Und ein Spiegel-Chef Rudolf Augstein, der in einem heute besonders seltsam anmutenden Verdikt Henze bescheinigt, ein „objektiv reaktionärer Komponist“ zu sein, dem obendrein der Sozialistische Deutsche Studentenbund auf den Leim gegangen ist. All das verlieh der geplatzten Uraufführung eine geradezu mythische Aura! [Die ganze Geschichte finden Sie auch in der nmz 2/2018.]
Damals gab es nur den ersatzweise ausgestrahlten Generalprobenmitschnitt im Radio. So fanden die eigentliche Uraufführung erst am 29. Januar 1971 in Wien (mit Edda Moser und William Pearson und Miltiades Caridis am Pult des ORF Sinfonieorchesters) und die erste szenische Produktion am 15. April 1972 in Nürnberg statt. In Hamburg holte erst Ingo Metzmacher, als Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, 2001 das dort so spektakulär Vermasselte nach. Musikalisch und inhaltlich heute kaum nachvollziehbar, hatte es das Oratorium selbst ziemlich schwer, Fuß zu fassen. Obwohl die Werke des 2012 längst allseits hochverehrt verstorbenen Hans-Werner Henze eine beachtliche Präsenz, und er selbst eine erstaunliche Nachwirkung im Werk seiner Schüler aufweisen können.
Die Geschichte, die Schnabel und Henze mit diesem Auftragswerk des NDR aufgegriffen haben, hat es in sich. 1816 war die Fregatte „Medusa“ auf der Fahrt in den Senegal, gekentert. Die privilegierten Passagiere hatte die Rettungsbote besetzt, für das über 150 Mann zählende Fußvolk blieb nur ein selbstgezimmertes Floß und ein Überlebenskampf, bei dem jede Menschlichkeit und die meisten der Schiffbrüchigen über Bord gingen. Als diese Katastrophe bekannt und im wörtlichen (1819) und übertragenen Sinne zum Bild für eine gespaltene Gesellschaft wurde, hallte der Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit-Elan der französischen Revolution noch nach. Und wurde dadurch verstärkt.
Dem exemplarischen Plot wächst heute, beim Blick auf die überladenen Boote im Mittelmeer, gleichsam von selbst eine nachhaltige Renaissance zu. Auf der anderen Seite aber gebietet die damit ja auch imaginierte Das-Boot-ist-voll-Metaphorik heute eine Auseinandersetzung mit dem exemplarischen Dilemma der Abwehrreflexe an jenen Küsten, die angesteuert werden.
In Amsterdam entgeht der Gesamtkunstwerker Romeo Castellucci der Gefahr, auf einer Sandbank der allzu platten mediterranen Aktualisierung zu stranden, verblüffenderweise durch evozierte Nähe zum Geschehen. Auf der Leinwand, die das Riesenportal der Bühne füllt, wird fast die gesamten 70 Minuten das Meer in Nahaufnahme gezeigt. Aus der Floß-Perspektive. Zu Beginn sieht man einen Senegalesen von heute am damaligen Ziel der historischen Reise durch die Straßen auf die Küste zu gehen. Um dann als der eine (seht her ein:) Mensch im Wasser zu schwimmen. Man sieht ihn permanent zwischen den immer wieder von hinten durchscheinenden, im Wellengang schwankenden Köpfen der Choristen des von Chin-Lien Wu einstudierten Chores der Niederländischen Nationaloper.
Als Charon führt Dale Duesing (auch er in deutsch) durch das Geschehen, das wir bei Henze, in einem oratorischen, zwischen aufbegehrendem und resignierendem Pathos zu hören bekommen. Da sind auf der einen Seite die vom Bariton Bo Skovhus als Jean Charles angeführten Lebenden, denen im Graben die Bläser zugeordnet sind. Auf der anderen Seite stehen die Toten, mit dem Italienisch von Dantes Inferno, den Streichern und der Sopranistin Lenneke Ruiten als „La Mort“ an ihrer Seite. Charon ist, ganz seiner klassischen Bestimmung entsprechend, der Vermittler zwischen diesen Welten.
Abgrund Mensch
Denkt man in der Richtung wie Henze und Schnabel weiter, dann richtet sich am Ende die Wut gegen die Verhältnisse, die in dieses Dilemma eines Kampfes der Menschen auf Leben und Tod führen.
Das Stück, wie kürzlich in Freiburg und in der Hamburger Elbphilharmonie bei einer Aufführung des SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Peter Eötvös geschehen, mit Teilen aus Elfriede Jelineks „Schutzbefohlenen“ zu kombinieren, vermag jene Vergegenwärtigung durch die kritisch schürfende Sprachartistik der Autorin zu vermitteln, die man in Amsterdam durch Castelluccis emphatische Vergegenwärtigung des Endpunktes dieser Exkursion in den Abgrund Mensch, auf dem Umweg über die sparsamen Bilder, die das Sterben selbst gleichwohl in die Vorstellungskraft der Zuschauer verlegen, erreicht. Das gelingt vor allem durch das empathische Pathos, vor dem Henze sich nicht scheut. Und für das Ingo Metzmacher mit seiner bewährten Affinität und Virtuosität für die Paradestücke der musikalischen Moderne am Pult des Niederländischen Philharmonischen Orchesters genau der richtige Interpret ist. Castellucci wiederum greift diese demonstrative Haltung explizit auf, indem er realen Namen und Geburtsdaten den 13.03.2018 als Sterbedatum hinzufügte.
Zum fulminanten Marschfinale dann Charons letzte Worte: „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd sie umzustürzen.“ Die Jahrzehnte, die seit 1968 vergangen sind, haben dem (gedachten) Ausrufezeichen hinter dem „Floß der Medusa“, das musikalisch eher im Gefolge, denn an der Spitze avancierter Moderne, seine Bahn zieht, mindestens noch ein Fragezeichen hinzugefügt.