Der Komponist Siegfried Matthus hat sich in einem Brief an den Deutschen Musikrat anlässlich seiner Pressemitteilung „Fuck You 1Falt“ gewandt. An den Präsidenten Martin Maria Krüger gewandt, sagt Matthus: „Gegen den Titel des Artikels „Fuck you 1Falt“ und gegen den teilweise sehr verschwommenen Inhalt muss ich protestieren. Als Mitglied des Deutschen Musikrates kann ich mich damit nicht einverstanden erklären.“ Wir dokumentieren seinen Brief.
Siegfried Matthus:
„Die deutschen Kulturtraditionen, von denen ein großer Teil zu Weltkultur gehört, sind der größte immaterielle Reichtum unseres Landes. In den schlimmen Zeiten der Nazidiktatur haben diese Traditionen weltweit für viel Unverständnis gesorgt. Wie kann ein Land, in dem Goethe, Schiller, Bach und Beethoven gewirkt haben, diese schreckliche Menschenvernichtung in den Konzentrationslagern geschäftsmäßig betreiben? Trotzdem ist das Kulturland Deutschland immer im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit geblieben. Selbst in der Zeit der beiden politisch so gegensätzlichen deutschen Staaten sind die gemeinsamen Kulturtraditionen ein erstaunlich unbemerktes Bindeglied gewesen.
Ich mache mir große Sorgen über die Leichtfertigkeit, mit der man in allen dafür verantwortlichen Stellen damit umgeht. Wir Bürger der Bundesrepublik beziehen unsere Identifikation vorrangig aus dem Bereich der Kultur. Deshalb muss es unsere vordringlichste Aufgabe sein, diesen kulturellen Reichtum zu pflegen und zu beschützen.
Leider gibt es keine einheitliche Haltung zu dieser so wichtigen und zentralen Frage. Die einzelnen Bundesländer haben sehr entgegengesetzte Auffassungen dazu, und die Bundesregierung zögert, in diese Länderkompetenzen einzugreifen. Meiner Meinung nach müsste hier über die Kulturhoheit der Länder hinaus die Bundesregierung eine Verantwortung übernehmen.
In einem Kolloquium vor einigen Jahren in Weimar machte der daran teilnehmende Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert den Vorschlag, dass ein Land als Vorbild im Schulunterricht das Lehren dieser kulturellen Traditionen im Lehrplan aufnehmen könnte – nicht als erweiterter Kunstunterricht, sondern als ein geschichtlicher Fakt.
Da ich im Land Brandenburg mit der jahrelangen Leitung der Kammeroper Schloss Rheinsberg künstlerisch tätig bin, nahm ich Verbindung mit dem brandenburgischen Bildungsministerium auf und machte dort den Vorschlag. Als Antwort bekam ich seitenlange Berichte mit großartig formulierten Methoden, wie man den Schülern vor allem die Musik beibringen möchte, die aber keine Hinweise auf die musikalischen Traditionen unseres Landes enthielten. Mein Vorschlag, gerade dafür eine Unterrichtsstunde einzurichten, wurde einfach mit der Begründung abgelehnt, dass dafür im Unterrichtsplan kein Platz wäre. Auch namhafte Befürworter meines Vorschlages, wie die Berliner Akademie der Künste oder Kurt Masur, fanden kein Gehör beim brandenburgischen Bildungsminister.
Nachforschungen im Deutschen Musikrat haben ergeben, dass 80% unserer Schüler keinen geregelten Musikunterricht bekommen. Teilweise spielen sie Instrumente, aber ihr Repertoire ist nur die ihnen bekannte Rock- und Popmusik. Nun gibt es beachtliche Aktivitäten auf das deutsche Kulturerbe hinzuweisen, in speziellen Schulen, Musikhochschulen und Instituten bis hin zu den Berliner Philharmonikern. Diese Aktivitäten muss man hoch loben – auf diesem Gebiet kann man nicht zu viel tun. Jedoch werden diese Tätigkeiten von den Verantwortlichen für den musikalischen Unterricht an den Schulen gerne als Feigenblatt dafür benutzt, die vorher genannten 80% zu übersehen und zu vergessen.
Nun gibt es auf dem Gebiet der Musik ein besonderes Problem. Der immer mehr steigende gewünschte und ungewollte Musikkonsum benutzt eine Musik im Genre der Rock- und Popmusik, die in allen Ländern keinerlei nationale Bezüge hat, sich fast nur englischsprachig präsentiert und so etwas wie eine Weltmusik mit afroamerikanischen Grundstrukturen ist. Der Einfluss dieser Musik auf junge Menschen – und nicht nur auf diese – ist enorm. Wie ein akustischer Tsunami überrollt er auch alle unsere Bemühungen, unsere jungen Menschen mit den musikalischen Traditionen unseres Landes, die größtenteils zur Weltkultur gehören, bekannt zu machen. Er wird von allen öffentlichen Medien kritiklos propagandiert.
Überall, vor allem wo man sie gar nicht hören will, wird man mit dieser Musik konfrontiert. Auf allen öffentlichen Veranstaltungen, in Kaufhäusern, Bahnhöfen, Sportplätzen und anderswo wird man mit ungewollter Musik berieselt. Die Nachrichten im Rundfunk werden mit dieser Musik vermischt. Im Fernsehen werden die schönsten Sendungen mit dramaturgisch völlig unsinnigen Musiken überfrachtet, und überall sieht man Menschen bei verschiedenen Tätigkeiten mit einem Stöpsel im Ohr. Es gibt einige professionell künstlerisch gut gearbeitete Stücke, aber der allergrößte Teil dieser Musik ist von einer erbärmlichen musikalischen Primitivität.
Es ist sehr schwer, gegen diese Art von Musik anzugehen. Die damit aufgewachsenen und nur mit dieser Musik konfrontierten jungen Menschen verehren David Bowie, Michael Jackson, Madonna und andere als ihre großen Idole. Bach und Beethoven jedoch kennen sie nicht. Wünschenswert wäre, wenn sich die Medien auch einmal kritisch zu den vielen primitiven Stücken äußerten und das Problem generell diskutieren würden. Aber nichts geschieht. Ich sehe nur eine Möglichkeit den jungen Menschen beizubringen, dass es, gerade in unserm Land, auch noch eine andere Musik gibt: im Schulunterricht.
Und nun bin ich wieder bei meinem Vorschlag. Es muss als Pflichtfach eine Möglichkeit geschaffen werden, die Schüler gestaffelt von den unteren Jahrgängen bis hin zu den Älteren, sie über die kulturellen Traditionen unseres Landes an historischen Fakten zu informieren. Wenn wir das in Zukunft versäumen, dann wird Deutschland bald ein bedauernswertes musikalisches Entwicklungsland sein.“