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Leonard Bernstein. 100. Geburtstag. Grafik: Hufner
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Simon Rattle: Bernstein würde heute Stücke über Flüchtlingskrise schreiben

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Die Musikwelt erinnert an den 100. Geburtstag von Leonard Bernstein. Wie würde er die Welt von heute sehen? Der ehemalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Simon Rattle, hat davon eine klare Vorstellung.

Ein bisschen müde wirkt Simon Rattle, als er zum Interview in den Räumen des London Symphony Orchestra in der britischen Hauptstadt bittet. Seit seinem Abschied aus Berlin pendelt der ehemalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker ständig zwischen Berlin und London hin und her. An seiner neuen Wirkungsstätte veröffentlicht Rattle nun eine CD mit dem Bernstein-Musical „Wonderful Town“ zum 100. Geburtstag des großen Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein.

Frage: Wie würden Sie Leonard Bernsteins Einfluss auf Ihre Arbeit und auf Sie als Person beschreiben?

Antwort: Er war ein Alles-oder-Nichts-Geschöpf – Gott sei Dank gehörte ich zu den Alles. Ich habe ihn nie getroffen. Ich ging zu einer Reihe von Konzerten, aber fühlte mich nie danach, hinter die Bühne zu gehen, obwohl ich mir sicher bin, dass er extrem herzlich und einladend gewesen wäre. Das einzige Mal, dass wir gemeinsam zum Abendessen verabredet waren, fiel zusammen mit der Premiere meiner damaligen Frau in New York, die eher in letzter Minute zustande kam, weil jemand krank geworden war. Er verstand das natürlich vollkommen und sagte: „Nein, da musst du hingehen“, was ich auch tat. Wir haben uns tatsächlich nie gesehen.

Frage: Sie haben ihn einmal als jemanden mit unendlichen Widersprüchen beschrieben. Was meinten Sie damit?

Antwort: Diese Mischung aus kompletter Offenheit und die ganze Welt in sich aufnehmen zu wollen, mit gleichzeitig immenser Privatheit und Zurückgezogenheit. Das Ringen zwischen Kopf und Bauchgefühl. Er ging in jeder Hinsicht ins Extreme in all diesen Dingen und war ein extrem rastloser Geist. Ich glaube, man hört das in seiner Musik und seinem Dirigieren in bemerkenswerter Weise.

Frage: Was bedeutet sein Werk in der Welt von heute?

Antwort: Er war schon immer ein politisches Wesen. Ich erschaudere bei dem Gedanken, was er von der aktuellen [US]-Präsidentschaft halten würde. Aber wenn Sie wissen, wie politisch er in den 60ern engagiert war, und dafür verspottet wurde, wäre es interessant, ihn in der Welt von heute zu sehen. Ich bin mir sicher, er würde Stücke über die Flüchtlingskrise schreiben, über deren Grausamkeit.

Frage: Bernsteins Musical „Wonderful Town“ gilt als eher leichtes Stück. Warum haben Sie es ausgewählt, um seinen 100. Geburtstag zu begehen?

Antwort: Ich hatte schon immer ein Faible für das schwarze Schaf. Es gibt diese drei großartigen Musicals [von Bernstein]. Über „Westside Story“ muss man gar nicht sprechen, aber „On the Town“, sein erster großer Hit, hatte noch einigen Erfolg später. Aber „Wonderful Town“ hatte, wegen des Buchs und der Geschwindigkeit, in der es geschrieben wurde, und wegen des überschäumenden Motivs, weniger Erfolg. Die Musik und ein großer Teil des Texts scheinen mir einfach wundervoll und lebensspendend und vernachlässigt. Trotzdem ist es durchdrungen von Enttäuschung, Verlust und Missverständnissen.

Frage: Was ist Ihr persönliches Verhältnis zu dem Musical „Wonderful Town“?

Antwort: Ich finde es vollkommen fesselnd und süchtigmachend. Man hat am Ende eines Abends das Gefühl, dass die Welt ein besserer Ort ist, trotz der Enttäuschung und trotz des Gefühls, mit widrigen Umständen konfrontiert zu sein.

ZUR PERSON: Sir Simon Rattle, einer der renommiertesten Dirigenten der Welt, gab im Juni 2018 nach 16 Jahren sein letztes Konzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Er leitet nun das London Symphony Orchestra, behielt seinen Lebensmittelpunkt aber in Berlin. Rattle wurde 1955 in Liverpool geboren. Als junger Dirigent reformierte er das städtische Orchester in Birmingham zu einem Vorzeigeensemble. Rattle ist mit der Mezzosopranistin Magdalena Kozena verheiratet.

 

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