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Wozzeck in Kassel. Foto: Nils Klinger
Wozzeck in Kassel. Foto: Nils Klinger
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Spektakulärer Auftakt einer neuen Intendanz: Florian Lutz inszeniert Alban Berg „Wozzeck“ in einer Raumbühne mit Gegenwartsbezug

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Mehr ungeplante Unterstützung von außen konnte sich Florian Lutz kaum wünschen und schon gar nicht selbst organisieren. Zum Auftakt seiner Intendanz am Staatstheater Kassel legte der bundesweite Aktionstag der meist jungen Klimaschützer auch hier zeitweise den Verkehr lahm. Dazu: die spannendste Bundestagswahl seit langem. Die Zeit ist, wenn nicht aus den Fugen, so doch spürbar angespannt. Auch nervös.

Da ist es für das Staatstheater in der documenta-Stadt und das auch hier durch den Lockdown ausgehungerte Publikum ein Glücksfall, dass nach der langen, erzwungenen Pause, der neu berufene Intendant Florian Lutz und sein Hausszenograf (also schon etwas mehr als der schlichte Bühnenbildner) Sebastian Hannak mit einer Raumbühne für etwa 630 nach 3G-Regel zugelassene Zuschauer den Gang ins Theater ermöglichen. Hannak hatte schon in Halle, als Corona noch eine Vokabel für Spezialisten war, mit zwei Raumbühnenversionen Furore gemacht und dafür u.a. den Theaterpreis FAUST geholt. 

Diesmal ist es eine aufwändige Gerüstkonstruktion mit dem so schön wortspielerischen Namen PANDEMONIUM, die den gesamten Bühnenraum und die Seitenbühnen für überall verteilte Zuschauer erschließt. Zu dem auf Lücke besetzten Parkett kommen drei provisorisch moderne Pseudo-Ränge hinzu, in denen alle in der ersten Reihe sitzen. Inmitten dieser Baustellenanmutung können sich die Zuschauer nicht nur mit neuen Einsichten ins Innere des Theaters (inklusive Schnürboden) vertraut machen und davon beeindrucken lassen. Außerdem können sie sich so schon mal an das bevorstehende, wohl unvermeidliche Spielstätten-Provisorium gewöhnen, da auch in Kassel die Sanierung des Theaters in den nächsten Jahren vorgesehen ist. Eine Herkulesaufgabe mit viel artfremden Managementherausforderungen, um die kein Intendant zu beneiden ist. 

Aber jetzt gilt erst mal das Wort vom Zauber, der jedem neuen Anfang innewohnt. Und die erste Premiere, mit der der neue Intendant sich seinem Publikum als origineller Regisseur vorstellt, hat die damit verbundenen Erwartungen erfüllt. Obwohl Alban Bergs „Wozzeck“ ja alles andere als eine leichte Kost ist. Weder von der Geschichte, noch von der musikalischen Seite her. Was bei der Uraufführung des ersten abendfüllenden, freitonalen Bühnenwerkes 1925 noch polarisierte, hat es längst in den Kanon der Schlüsselwerke der Moderne geschafft, die nicht nur aufrütteln, sondern mit ihrer dunklen Schönheit auch faszinieren. Nicht nur, weil das Orchester hin und wieder betörend auf seiner Eigenständigkeit besteht, sondern auch, weil der Text dicht auf der Musik liegt. Und umgekehrt. Nun ist allerdings schon Georg Büchners Fragment über den Fall Franz Woyzeck aus dem Jahre 1837 (das erst lange nach seinem Tod erschien) ein genialer Wurf. Es ist ein Text, in dem das Leiden der Kreatur in jedem Halbsatz aufscheint. Exemplarisch dafür steht der Blick in den „Abgrund Mensch“, von dem der Titelheld einmal spricht. Eine Metapher, die nur bei Nietzsche eine sozusagen ähnliche Tiefe hat. 

Wirklich falsch machen kann man bei „Wozzeck“ eigentlich kaum etwas. Das Mitfühlen mit den armen Leut und den Abscheu vor den Verhältnissen zur Gegenwart hin zu öffnen, das ist eine von den Herausforderungen, die Lutz besonders reizen. Vor über zwanzig Jahre hatte Peter Konwitschny in Hamburg die Armut als eine des äußerlichen Reichtums zelebriert und so die Verhältnisse attackiert. Auch in Kassel bricht die Wirklichkeit von heute radikal in das Stück ein. Den Rahmen bildet eine Art Demokratieshow, bei der das Publikum sogar über diverse Gesetze abstimmen kann. Die Themen dieses eher demagogischen als demokratischen Verfahrens stammen aus dem Stück, das gegeben wird. Ernährung, Kontakte und Gewalt. Die Raumbühne als Musiktheaterparlament und die Zuschauer als Volksvertreter. Mit ausgeteilten Abstimmungskarten geht es im Pro oder Contra um ein „Beste-Ernährungs-Gesetz“, ein „Sichere-Kontakte-Gesetz“ und das „Sichere-Deutschland-Gesetz“. Das Ganze wird gesponsert von dem Konzern, der ein Flüssignahrungsgetränk namens Biofuel herstellt und für das der smarte Tambourmajor die  – obendrein von der Hautfarbe her diverse – Werbefigur ist. Es gehört zur geistigen Wegzehrung, die jeder Zuschauer mit nach Hause nimmt, wohin diese Gesetzte in einfacher Sprache und mit den einfachen Lösungen wohl führen würden. 

Der Hauptmann (Arnold Bezuyen bewältigt neben den exzellent gesungenen auch die gesprochenen Passagen souverän) führt durch das pseudoparlamentarische Werbe-Event. Immer dann, wenn die Anmache des Tambourmajors (fabelhaft mit vollem Stimm- und Körpereinsatz: Frederick Ballentine) bei Marie (sinnlich, leidenschaftlich: Margrethe Fredheim) besonders erfolgversprechend zu werden droht, steigen die beiden aus der Rolle aus und begegnen sich wie zwei Darsteller, denen das Spiel mit der Leidenschaft Spaß macht. Wozzeck dagegen bekommt keine Chance zum Aussteigen. Er bleibt gefangen in seinen Verhältnissen, die hier vor allem von einer prekären Beschäftigung (im Versandlanger) und einer verkorksten Beziehung gekennzeichnet sind. Die Raumbühne steht für die Geografie seines Lebens. Filippo Bettoschi verkörpert diesen immer Getriebenen, Zerrissenen und vergeblich Kämpfenden mit überzeugender Würde. Andres Felipe Agudelo als Andres und Maren Engelhardt als Margret sind die passend korrespondierenden personellen Ergänzungen an der Seite von Franz und Marie.   

In der Tiefe der einen Seitenbühne befindet sich das Versandlager, in dem Wozzeck schuftet. In der anderen die Praxis des Doktors (prägnant: Magnus Piontek), dem Wozzeck als Versuchskaninchen dient. Auf der Bühne ist das Orchester platziert und auf einem Podest in halber Höhe dahinter gehen sich Marie und ihr Sohn gegenseitig auf die Nerven. Er mit Playstation, sie am Küchentisch mit griffbereiter Flasche. Auf der schmalen Fläche in Rampennähe befindet sich das Wirtshaus, in dem offenbar Travestieshow auf dem Programm steht, bei der Michael Tews und Ilyeol Park als Handwerksburschen ihrem Komödiantenaffen Zucker geben.  

Zu den Wegen zwischen diesen Stationen gehört noch ein Steg hoch über dem Orchester. Gut geeignet für diverse Dialoge, aber etwas problematisch, wenn man den Protagonisten im Rücken sitzt. Optische Defizite beim Gesamtüberblick werden durch Livekameras und mehrere Großbildschirme ausgeglichen. Das gelingt besser als akustisch, was allerdings durch eine geschickte Videoregie (Konrad Kästner) wohl auch etwas leichter zu machen ist. Für die Zuschauer auf den Plätzen über dem Staatsorchester ist die von GMD Francesco Angelico einfühlsam und mit Präzision dirigierte Musik allerdings eine Offenbarung. Ein Klangsog, dem man nicht ausweichen kann, der den Raum erfüllt und die kleinen Defizite mehr als ausgleicht. 

Beim Mord an Marie gehen die Videoübertragungen auf den Bildschirmen und das reale Geschehen auf der Bühne plötzlich getrennte Wege. Wir sehen auf dem Bildschirm das Blut an Wozzeck und die tote Marie. Auf der Bühne landet Wozzeck jedoch wieder im Versandlager in der Gefangenschaft seines Jobs. Sein Junge sucht sich (hop hop) eine andere Playstation in einer x-beliebigen anderen Bleibe – den Ausweg aus der Misere des Lebens seiner Eltern dürfte der so kaum finden. Und ob es uns anderen mit den gerade verhandelten Gesetzen wirklich besser gehen würde, ist eine Frage, die jeder für sich beantworten mag. Die Chancen, dass es Kassel mit dieser Art von Musiktheater besser gehen könnte, die stehen freilich gut.

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