Beeilen Sie sich! Vorerst ist der Stream nur bis zum 10. Mai abends verfügbar. Zu Beginn des zweiten Lockdowns schaffte es die nmz nicht mehr in eine physische Vorstellung der Landesbühnen Sachsen im November 2020. Aber auch digital ist der Abend aus dem Theater Radebeul mit Jacques Offenbachs „Die Insel Tulipatan“ und Leonard Bernsteins „Trouble in Tahiti“ ein ästhetisch-theatrales Turbovergnügen.
Wer im durchsichtigen Wohnwürfel vom Regie, Bühne und Kostüme verantwortenden Operndirektor Sebastian Ritschel sitzt, muss erst recht bellen. Der Einakter-Abend mit dem halbironischen Titel „Inselzauber“ ist laut und bunt, aus dem Orchestergraben passend zum Geschehen schräg und satt, auf der Bühne im Frivolen und Tragischen klamaukig, hart und immer verspielt. Schade nur, dass der designierte Intendant des Theaters Regensburg in der gewählten Stück-Reihenfolge das Publikum mit dem Kinobesuch des Paares Dinah (klare Leidenskraft: Ylva Gruen) und Sam (viril beeindruckend: Paul G. Song) entlässt, deren Ehe in Leonard Bernsteins pessimistischer Oper „Trouble in Tahiti“ von 1951 nicht mehr zu retten ist.
Andersrum wäre es optimistischer gewesen, weil Ritschel für Jacques Offenbachs Einakter „Die Insel Tulipatan“ im durchsichtigen Würfel eine ziemlich durchgeknallte Inselmonarchie aus dem „Jahr 473 vor Erfindung der Kleintier-Toilette“ entwirft. Ohne Untertanen agieren hier Herzog Cacatois XXII. (Andreas Petzoldt mit Henry VIII-Bart) und seine sich das Leben mit zunehmend zungentorkelnder Inbrunst schön trinkende Gemahlin Théodorine (Antje Kahn). Zudem modellieren sie zu den zwischen Südsee und New Orleans anzusiedelnden heißen Rhythmen aus dem Arrangement von Dirigent Hans-Peter Preu Diplomatie im Dauer-Tiefflug und von einer Schildkröte emsig auf dem Panzerrücken apportierten Longdrink-Nachschub. Die Glitzerkostüme in perfekter Verblendung aus „Matrix“, den Märchenillustrationen Gustave Dorés und Glanzstoffen passen in jede Epoche, die mit Glitzern und elegant modellierten Bärten etwas anzufangen weiß.
Zum Schluss gibt es ein heteronormatives Happyend – hab' Dank, Heilige*r Queerness! Nämlich Sie: Alexis (Kirsten Labende) - und Er: Hermosa (Florian Neubauer) kommen zusammen, obwohl sie in den Gewändern und Prägungen des jeweils anderen Geschlechts nicht nur aufgewachsen sind, sondern sich auch zum eigenen textilen Geschlecht hingezogen fühlen. Verstanden? Außerdem kann man vom Herrscher Romboidal (Kay Frenzel) richtig schön falschrechnen lernen, so dass zweimal zwei vier oder sogar Null ergeben kann.
Die fünf Solisten haben alle mehrere Stimmen: Kindliche, quietschende oder soulende – ganz nach Bedarf. Belcanto-Vermeidungszone von Offenbachs Gnaden also. Ritschel wirft seinem Ensemble zahlreiche intelligente Blödeleien zu und bewahrt trotzdem für Offenbach Liebe und Respekt. Die erste voll-queere und schließlich mit knapper Not im stinknormalen Ehealltag ankommenden Operette (Paris 1868) erfährt noch ein ernstes Nachspiel mit nur allzu realen Einblicken in eine Paargemeinschaft des mittleren 20. Jahrhunderts. An dessen Absturz ins monotone Elend vermögen die Komfort-Pole Einbauküche und Psychoanalytiker mit viel „Kunst an den Wänden“ (man singt in der deutschen Übersetzung von Peter Esterházy) nichts zu ändern.
Dieses Eheelend hat bei Ritschel eine ästhetisch klare Form, die nicht nur durch ein ein Girl (Kirsten Labende) und die beiden Boys (Florian Neubauer, Benedikt Eder) im stilisierten Doris-Day-Outfit mit frisch gestärkter Schürze und Brille gebrochen werden. Dinah und Sam sind nach ihres langen Tages Reise in die Nacht, auf die sie sich vertrösten, noch immer nicht bereit, einander richtig an- und auszusprechen. Auch da machen die warmen Farben Gelb, Blau und Pink noch keinen aufklarenden und wärmenden Ehesommer. Faszinierender noch als die getanzte Farce für Musiktheater auf der „Insel Tulipatan“ ist der Sprung in das glatte, blankpolierte Funktionsdesign von Leonard Bernsteins Ehedrama, das auch im Kinoraum beim Film „Trouble in Tahiti“ weder Entspannung noch Versöhnung finden wird. Hier gewinnt das Drama durch Preus musikalisches Pulsieren in der kleinen Besetzung mit der Fassung für Kammerorchester von Garth Edwin Sunderland. Es ist hier ein kühles und dabei breit ausschwingendes Elend, das Bernsteins Anti-Eheoper musikalisch vollauf bedient und durch die kühle Ästhetik doch in Distanz setzt.
Wenn die Kamera in den fast leeren Graben des Theaters Radebeul zu der kleinen, bläserfokussierten Orchesterbesetzung schwenkt, könnte man diese dezimierende Ausdünnung für einen Teil des visuellen Konzepts halten. Die Musiker der Elbland Philharmonie Sachsen sind ideale Gespiel*innen bei Offenbach und Bernsteins Gesängen vom Jammer der Ehe. Wohltuend dazu: Am Ende kein Verbeugen vor leerem Haus mit hungrigen Künstlerblicken, die Sehnsucht bedeuten sollen. Sven Stratmann als Video-Gestalter behandelt die Bühne in Totale und Details wie ein Studio, in dem der Zauber alsbald ernüchtert, wenn das Spielgeschehen in die steril gehaltene Ehe-Insel verrutscht und eine knappe Stunde später die Begeisterung für einen spannend schönen, leider nur digitalen Theaterabend nachklingt. Zum Schluss blinkt auf der „Trauminsel“ noch immer das Neonband mit dem Schriftzug „Paradise“.
Online-Stream am 9. Mai 2021, 19.00 Uhr (abrufbar für 24 Stunden, Vollpreis 10 Euro; Ermäßigt 5 Euro): https://dringeblieben.de/videos/inselzauber-ein-doppelabend-mit-die-insel-tulipatan-und-trou