Serdar Sumuncu als Bassa Selim in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ – die Oper Dortmund dürfte mit ihrer Entscheidung, die wichtige Sprechrolle mit dem allseits bekannten Comedy-Star zu besetzen, vielleicht ein etwas anderes Opernpublikum gewinnen. Es ist indes nicht das erste Mal, dass Sumuncu in diese Rolle schlüpft: bereits vor elf Jahren hatte ihn das Theater Münster engagiert, damals in einer wenig interessanten Inszenierung. Dieses Mal ist alles ganz anders
Tatort Dortmund! Ermittelt wird gegen eine Bande aus dem vorderen Orient. Vorwurf: Entführung zweier deutscher Staatsbürgerinnen, womöglich auch Vergewaltigung. Ein Fall für Polizeioberkommissar Daniel Kossik, den „Neuen“ unter den alten Stars der ARD-Krimiserie? So oder so ähnlich könnte man sich Mozarts „Entführung aus dem Serail“ vorstellen, verlegt an einen Schauplatz irgendwo im Dortmunder Norden, der in der Bevölkerung gemeinhin als sozialer Brennpunkt gilt.
Wenn sich der Vorhang zu Jens-Daniel Herzogs Inszenierung in der Oper Dortmund hebt, fällt der Blick tatsächlich auf einen schäbigen Hinterhof. Im Erdgeschoss die Küche einer Döner-Bude, ein Stockwerk höher das Büro eines türkischstämmigen Unternehmers, rechts das Nachbarhaus mit winzigen Balkonen, an denen jeweils eine Satellitenschüssel klebt. Dies aber ist die Kulisse für eine Mozart-„Entführungs“-Geschichte, die Herzog mal ein wenig anders erzählt – und mit dieser Sichtweise durch und durch punkten kann.
Denn bei ihm befinden sich weder Konstanze noch Blonde noch Pedrillo in Gefangenschaft. Sie sind „ganz normale“ Angestellte: drei deutsche Arbeitnehmer mit türkischen Chefs. Die eine (Konstanze) macht das Büro für Bassa Selim, die anderen beiden schnibbeln für Osmin Gurken und tragen den Müll in den Container. Und dies ist doch schon längst nichts Ungewöhnliches mehr, dass Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen im Alltag gut miteinander klarkommen. Gottlieb Stephanies Mozart-Libretto geht dagegen vom „clash of cultures“ aus, der Probleme bereitet und den verliebten Belmonte dazu drängt, seine angebetete Konstanze aus den Klauen der Fremden zu entführen. Jens-Daniel Herzog zieht das Problem in seiner intelligent angelegten Inszenierung genau von der anderen Seite her auf: es sind nicht die kulturellen Unterschiede, sondern allein die Liebe, die dazu führt, dass Mozarts „Entführung“ so endet, wie sie endet.
Gar keine Frage, dass Konstanze was für Bassa Selim empfindet – genauso wie Blonde durchaus Sympathien hegt für ihren Chef Osmin. Das kommt nicht gut an, weder bei Pedrillo noch bei Belmonte. Und deshalb geht es Herzog eigentlich um Eifersucht und Rückeroberung verloren gegangener oder verloren geglaubter Emotionen. Die bei Mozart noch „Entführten“ könnten in Herzogs Lesart, wenn sie wollten, einfach gehen und sich wieder für ihre ursprünglichen Partner entscheiden. Also braucht es doch noch einen Kriminalfall: Pedrillo vergreift sich an Bassa Selims Eigentum, raubt sein Bargeld und andere Wertgegenstände, reißt das Bild mit dem Istanbul-Panorama von der Bürowand und beschmiert es mit der Parole „Türken raus“. Und Bassa Selim? Der ist (jetzt wieder ganz wie bei Mozart!) angesichts dieser rohen Gewalt der Tolerante, der Vergebende, schenkt Freiheit – und gibt sich anschließend die Kugel. Ob nur aus enttäuschter Liebe oder der Erkenntnis heraus, dass der „clash of cultures“ offenbar doch nicht funktioniert – diese Frage konnte sich das Premierenpublikum selbst beantworten. Alles in allem: eine schlüssige Interpretation, die sehr viel mit uns selbst zu tun hat!
Gesungen wird in Dortmund ordentlich. Wobei es vor allem das so gern als „niederes Paar“ bezeichnete Duo Pedrillo/Blonde ist, die die meisten Lorbeeren davontragen. An erster Stelle Fritz Steinbacher, der einfach ein wunderbarer Sängerdarsteller ist: frisch und quirlig in seinen Bewegungen, erfrischend mit seinem jugendlich-draufgängerischen Gesang. Tamara Weimerich als Blonde ist eine ideale Besetzung, spritzig und mit schöner, müheloser Höhe. Als Konstanze mobilisiert Eleonore Marguerre alle Facetten ihrer Hin- und Hergerissenheit zwischen Selim und Belmonte, umschifft dabei sicher die Klippen ihrer Koloraturen. Hin und wieder krachen ihre Töne am Anfang oder Ende einer Phrase. Lucian Krasznec ist Konstanzes Geliebter Belmonte, ein lockerer, um seine Verflossene kämpfender Typ. Das tut er ohne großen vokalen Balsam, stattdessen eher mit Druck und Anstrengung. Wen Wei Zhang macht schon optisch einen ehrerbietenden Osmin her, sein Bass hat Kraft (wenn auch nicht bis hinein in die tiefsten Tiefen), das gesprochene Wort bleibt indes so gut wie unverständlich. Was man von Serdar Somuncu nun ganz und gar nicht behaupten kann: sein Bassa Selim überzeugt in jeder Sekunde.
Am Pult der Dortmunder Philharmoniker steht Kapellmeister Motonori Kobayashi – und entwickelt einen durchweg transparenten, federnden, in Sachen Dynamik stets sängerfreundlichen Klang, obgleich ihm stellenweise das Tempo doch ein wenig einzufrieren droht. Gut möglich, dass die folgenden Repertoire-Vorstellungen da noch etwas an Fahrt aufnehmen. Viel Jubel des Premierenpublikums!
Weitere Termine: Fr, 30. Mai 2014, Sa, 07. Juni 2014, Fr, 13. Juni 2014, Fr, 20. Juni 2014, So, 22. Juni 2014, Fr, 04. Juli 2014