Ausnahmezustand im Regensburger Velodrom: Damit nicht genug, dass außer Pressevertretern (mit Abstand verteilt auf der Galerie) und Theatermitarbeitern (im Parkett) kein Publikum bei der Premiere anwesend sein konnte; vor der Spielstätte läutete auch noch ein geheimnisvoller, weiß gewandeter Spielmannszug den Abend ein. Man durfte sich auf was gefasst machen.
Die Regisseurinnen Julia Lwowski und Franziska Kronfoth hatten sich Monteverdis „L‘Orfeo“ vorgenommen und drehten den unsterblichen Klassiker zusammen mit ihrem Team vom Theaterkollektiv Hauen und Stechen mit großer Lust an der Zuschauer-Überforderung durch ihren Assoziations-Fleischwolf. Da war von der Dreifach-Besetzung der Titelpartie (Sopranist, Mezzo, Schauspieler), über deutsche Texteinsprengsel, rätselhafte Rituale, Filmeinspielungen (u.a. der Künstler Ed Dickmann als alter Orpheus) und fast permanente Live-Videos bis hin zur wiederholten Durchbrechung der vierten Wand alles geboten, was das zeitgenössische Performance-Theater so zu bieten hat. Dass viele Darsteller mehrere Rollen übernahmen, gehörte wohl zur planvollen Verunklarung des Ganzen.
Der Vorabblick ins Programmheft konnte helfen, einige der Assoziationsketten zu lösen, etwa den Auftritt Demeters und ihrer Tochter Kore, die sich angesichts der außerplanmäßigen Erlösung Euridices aus dem Totenreich Sorgen um den korrekten, nahrungspendenden Jahreszeitenwechsel machen. Anderes war unmittelbar zu entziffern, und so nahm man zum Beispiel amüsiert zur Kenntnis, wie Orpheus sich den Weg ins Styx-Planschbecken durch Berge von Müllsäcken bahnte.
Für Tempo und weitere Bilderfluten sorgten immer wieder die Ausflüge in den Bühnenunterboden, wo sich zwischenzeitlich wenig vertrauenserweckendes medizinisches Personal an der verstorbenen Braut zu schaffen macht. Köstlich, wie Orfeo dort von Onur Arbaci als Spaghetti-Mama Speranza mit umgeschnallten Riesenbrüsten herzlich empfangen wird. All das machte der bewundernswerte, auch darstellerisch geforderte Martin Mallon mit der Live-Kamera auf dem großen Bildschirm im rechten Bühnenteil sichtbar.
Nach der Pause hängt die mit über drei Stunden deutlich zu lange geratene Produktion dann auch mal ordentlich durch. Höhepunkt ist hier die mit fetten Beats unterlegte Beteuerung der Mezzo-Version des Orfeo: „Ich hab’ gar nicht geguckt!“ spricht er/sie in Dauerschleife in die Kamera, was aber nichts nützt. Das Zerreißen Orpheus’ durch die Mänaden, auf das Monteverdi/Striggio zugunsten des Happy-Ends verzichteten, wird in Anspielung auf Yoko Onos „Cut Piece“ angedeutet, indem ihm die Kleider vom Leib geschnitten werden. Am Ende entschweben zur nachgeschobenen Ouvertürenfanfare die Orpheuse (die Männerdarsteller wahrhaftig und schuhplattelnd, Vera Semieniuk per Video virtuell) dann aber doch selig in den Sternenhimmel.
Musikalisch ist der Abend nicht ganz so vogelwild geraten wie die Szenerie. Die im ersten Teil dominierenden Monteverdi-Auszüge werden allzu selten überzeugend verfremdet. Wohl auch aufgrund einer kurzfristigen Besetzungsänderung klappert es zwischen der Continuo-Gruppe rechts vorne, dem unter der Leitung von Tom Woods agierenden Orchester unter einer Zelthaube im Bühnenhintergrund und den Sängern mitunter gewaltig. Obwohl solistisch immer wieder gut gesungen wird (Onur Abaci und Vera Semieniuk unter anderem als Orpheus, Sara-Maria Saalmann als Euridice, Musica und Eco), wirkt das vor allem in Ensemblesätzen – vielleicht absichtlich – ein wenig unfertig. Dort, wo der fabelhaft präsente Thorbjörn Björnsson als Orpheus-Schauspieler seinen Möglichkeiten gemäß sprechsingt, passt es dann aber wieder wie die Faust aufs Auge.
Der Anteil der Brüder Hannes und Andi Teichmann an der Produktion ist in der ersten Hälfte überschaubar, wo sie nur einige Klangteppiche unter gesprochene Texte legen. Mit einer ersten Retro-Techno-Nummer zur Styx-Überquerung wird vor der Pause aber klar, wohin die Reise im zweiten Teil geht: Immer öfter übernimmt Edgar Wiersocki an Synthie und Computer das Kommando und verwandelt den Abend mehr und mehr in einen düster-apokalyptischen Rave.
Was sich von all dem in der Live-Übertragung auf dem YouTube-Kanal des Theaters transportieren ließ, konnte nicht verifiziert werden. Stand jetzt, kann sich das Publikum frühestens ab 21. Mai vor Ort ein Bild von der Produktion machen.