„Seid Menschen!“, verlangt Sultan Saladin zum Schluss. Diese im letzten Zwischentitel „verbalisierte“ Forderung nach gelebtem Humanismus durchzieht den zweistündigen Stummfilm „Nathan der Weise“ wie ein roter Faden: in Form lautlos schreiender Anklage gegen visualisierte Unmenschlichkeit, gegen verbohrte christliche Intoleranz und fanatisierten Glaubensdünkel, dem Nathans Ringparabel als leuchtendes, allegorisch verbrämtes Ideal gegenübersteht; und endlich als dargestellter elysischer Religionsfriede, der die 1922 gedrehte Filmfassung des gleichnamigen Ideendramas von Gotthold Ephraim Lessing als Vision vom Paradies auf Erden krönend abschließt.
Dem lange verschollenen, 1996 wieder aufgefundenen Werk von Regisseur Manfred Noa, Produzent Erich Wagowski und der „Bayerischen Film-Gesellschaft m.b.H.“ wohnt einiges an, leider vor allem schlimmer, Vorahnung und bis heute gültiger Zeitkritik inne. 230 Jahre nach der Veröffentlichung von Lessings Fünfakter, 87 Jahre nach seiner ersten und bislang einzigen Verfilmung und 13 Jahre nach der Wiederentdeckung des grandiosen Stummfilms in Moskau fand in der Philharmonie im Münchner Gasteig am 24. Oktober eine Weltpremiere statt: Gestützt von einer eindrucksvollen Liste an Ko-Produzenten, Kooperationen, Förderungen, umrahmt von Begleitausstellung und Einführungsgespräch hoben Dirigent Frank Strobel und das vor 40 Jahren gegründete Bundesjugendorchester das „FilmKonzert Nathan der Weise – eine filmmusikalische Toleranzinitiative“ aus der Taufe.
Komponiert hat die an diesem Samstagabend uraufgeführte Untermalung der libanesisch-deutsche Jazz- und Weltmusiker und Oud-Meister Rabih Abou-Khalil, der selbst zusammen mit Jazzer Michel Godard an Tuba und Serpent und mit Percussionist Jarrod Cagwin mitwirkte. Dabei gründete Abou-Khalil seine Filmmusik überwiegend auf drei Säulen: auf orientalisch anmutende, harmonische Tonalität, aus dem Jazz rührende, teils mit Pizzicato-Bässen unterlegte Unisono-Läufe und markant synkopierte bis vorwegnehmend akzentuierende Rhythmen. Innerhalb der Koordinaten bewegte sich seine Tonsprache meist und trotz dem orchestralen Potential, die in der einschichtigen Atmosphäre dennoch mit Leitmotiven für Personen und Situationen, mit musikalischem Formulieren der lautlosen Gespräche arbeitete.
So erhielt die Begleitmusik für Sultan Saladin eine arabische Färbung, beim Auftreten Nathans hebräische Züge und im kriegerischen Milieu der Tempelritter mittelalterliche Anklänge. Zarte Erinnerungen an Klassiker wie Brahms oder an die schlanke Üppigkeit in Castelnuovo-Tedescos Gitarrenkonzert, innige Streichtrio-Strecken und der exotischere Triolog der Solisten bildeten die Inseln in der monochromen, das Geschehen in Echtzeit reflektierenden Klangebene.
Dass Szene und Musik so akkurat zusammenpassten, war auch den Ausführenden zu danken: dem Dirigent Frank Strobel, laut Biographie „einer der weltweit renommiertesten Dirigenten im Bereich der Filmmusik“, der diese These an diesem Abend durch seine souverän gemeisterte Scharnierfunktion zwischen Bild und Ton bekräftigte; und den jungen Orchestermusikern, die bewundernswert präzise, meist lupenrein spielten und sich sechs Akte und ein Vorspiel lang bemerkenswert sicher auf dem neuen Terrain bewegten. Der Beifall für die Beteiligten war denn auch andauernd kraftvoll. Und eine Renaissance hat die prachtvoll inszenierte, mit packender Theatralik gespielte Stummfilmfassung von Lessings „Nathan der Weise“ mehr als verdient.