„In Frankfurt begann alles…“ beschreibt Franz Schreker selbst seinen künstlerischen Weg, der mit der beifallumrauschten Uraufführung von „Der ferne Klang“ 1912 begann. Die folgenden Frankfurter Uraufführungserfolge von „Die Gezeichneten“ und „Schatzgräber“ mögen Michael Gielen bewogen haben, in seiner Ära daran anzuknüpfen. Ihm, dem gerade Verstorbenen, ist daher die neue Produktion des „Fernen Klang“ gewidmet. Es wurde eine triumphale Kunstfeier, sagt unser Kritiker Wolf-Dieter Peter
„Das Leben ein Traum“ nannte Calderon sein Drama um die Problematik von freiem Willen und Schicksal. Das könnte ein Ausgangspunkt für Bilder und Szenen gewesen sein, die das künstlerisch eingeschworene Team um Regisseur Damiano Michelietto geschaffen hat. Ein Künstler- und ein Liebestraum, vom Scheitern durchzogen: Der begabte junge Komponist Fritz verlässt die Provinz und seine Liebe Grete, um den „fernen Klang“, den er ahnt, mit dem er den Durchbruch erzielen will, zu finden. Grete soll zwangsverheiratet werden, flieht hinterher – und landet in einem Edelbordell in Venedig. Dort strandet auch der immer noch suchende Fritz – und verstößt die zur „femme fatale“ aufgestiegene Grete. Jahre später wird Fritz’ Oper „Die Harfe“, die um den unerhörten, zauberhaften „fernen Klang“ kreist, uraufgeführt. Die zur Straßendirne abgesunkene Grete erlebt den Misserfolg mit – und der Schock bringt Fritz einerseits zur Einsicht in sein Fehlverhalten gegenüber Grete, lässt ihn krank und verzweifelt aber auch den bislang unerhörten „fernen Klang“ hören, ehe er in ihren Armen stirbt.
Faszinierend zarter Raum-Zauber
Dafür hat Paolo Fantin einen sich nach hinten verjüngenden Raumkubus aus weißen Schleiern gebaut. Drei quer verlaufende Schleierwände wirken wie Ebenen und Schichten des Bewusstseins, durch die wir alle mit Fritz und Grete und allen übrigen Figuren „tiefer“ und auch traumverloren blicken können – denn alle reale Handlung ist auch aufgehoben: von Anfang an sitzt neben der jungen Grete auch sie selbst als alte Frau (feinfühlig wirklich verkörpert von Steffi Sehling); auch der junge Fritz erscheint bald als immer noch mit Suchen und Scheitern ringender Alter – mal als anrührend „vom Leben“ Gebeugter (allein das schon eine grandiose Studie des seit Langem zum „Geheimtipp-Solisten-Statisten“ aufgestiegenen Martin Georgi) in der Szene, mal als bettlägriger Greis mit der Partitur seiner Oper „Harfe“ neben sich, mal als Traumtänzer durch die Imagination schwebender Musikinstrumente als Projektion auf den Schleierwänden (nie dominante, zarte Videos der roca-Filmer Roland Horvath und Carmen Zimmermann).
Als Gipfel anrührender Irrealität und feinfühlig inszeniertem phantastischem Realismus, begegnen sich „Jung und Alt“ mehrfach, überreichen einander Blumen, trösten, stützen, nehmen Anteil – bis im Finale die fabelhafte Regie und Maskenbildnerei die beiden realen Solisten (zu Recht mit Ovationen gefeiert: Jennifer Holloway mit Sopran-Schlankheit und Mezzzo-Reife; Ian Koziera mit tenoraler Strahlkraft und gebrechlicher Lyrik gegen Ende) – diese beiden völlig den greisen Doubles angenähert haben: bewegend die eigene Vergänglichkeit beschwörend und zu Tränen rührend.
Bis zu diesem emotional überwältigenden Ende hat Regisseur Michelietto nicht dem Werk ein Konzept übergestülpt, sondern in realen Spielzügen Gretes jugendlichen Liebestraum, Fritz‘ egozentrischen Künstlertraum, die handgreifliche Enge der Dorfwelt, die oberflächlich glitzernde Halbwelt im künstlichen Lust-Paradies und das halbglückliche Zueinanderfinden gezeigt: als verschiedene Lebensphasen in verschiedenen Altersstadien und auf verschiedenen Erinnerungsebenen der vier Schleier-Welt-Bereiche - ein fabelhaft fließender szenischer Bewusstseinsstrom voller fein gezeichneter Charaktere (stellvertretend für 18 Solo-Partien: der wuchtige Wirt-Bräutigam von Bass Anthony Robin Schneider, dem Grete glaubhaft entflieht; die jung unbedachte Edelnutte Mizzi von Julia Dawson, der „man-n“ jede Sex-Raffinesse glaubt; der selbstbewusst souveräne Graf von Gordon Bintner, der Greta phasenweise liebt und dann auch ablegt. Alle diese differenziert geformten Porträts wurden aber auch immer wieder durch eine phantastische Lichtregie auf den Schleierwänden (Allessandro Carletti), durch Lichtwellen-Vidoes und kopfüber herabfahrende Möbel in erinnernde Irrealität gehoben – mit der immer wiederkehrenden Harfe als Symbol für Fritz‘ Klang-Suche.
O sink hernieder, Nacht der Musik
Dass Franz Schreker seit 1912 bis zur bitteren Erniedrigung durch die braunen Kulturbarbaren 1993-34 als „Klangzauberer“ gerühmt und gefeiert wurde, machte GMD Sebastian Weigle mit dem feinfühlig folgenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester über fast drei Aufzüge hinweg hörbar. Da war das Ringen der jungen Liebenden, da war der ihren Selbstmord verhindernde Naturzauber um Gretes Flucht, da war der fast grell vordergründige Show-Klang der wetteifernden Freier um die Edelnutte Grete. All das gipfelte im Klangfarbenrausch der Zwischenmusik, als Fritz endlich den „fernen Klang“ hört und Grete zu ihm findet – Musik und Szene in musiktheatralisch vollendeter Durchdringung: im weißen Schleierraum fahren über den Liebenden alle Instrumente der Musik herab, sie beide scheinen vom Kosmos der Klänge umgeben und umspielt und umtost, alle Realität scheint im schwebenden All des Tönens aufgehoben – von Gretas Liebesschwärmen umhüllt stirbt Fritz – das Ende aller Klänge und Irrungen und Wirrungen, die weiße Schleierwelt fällt herab – schwarze Nacht und Blackout – Überwältigung – und nur ein Wort: Grandios!