Das Festspielhaus in Bayreuth galt lange Zeit als ein Weiheort und ist für Viele auch heute noch eine Kultstätte. Im zweiten Aufzug der „Götterdämmerung“ sind in Wagners Original drei Weihesteine für die Götter sichtbar. Frank Castorf ließ sich von seinem Bühnenbildner Aleksandar Denić für den letzten Teil der „Ring“-Handlung eine Kult- und Weihestätte in die Nische einer Häuserwand bauen, die hinter Gitterschiebtür als schriller Woodoo-Weiheort alten und neuen Sakralkitsch, bis hin zum laufenden kleinen TV, beherbergt.
Vor und in dieser südamerikanischen, magischen Zelle exerzieren die drei Nornen – ganz ohne Seilassoziation – mit Knochen und blutigem Geflügel die Rück- und Vorschau des Geschehens, und sie beschmieren die Wände, auf die Hagen später rituell Schnaps ausspucken wird, mit Blut und Kot.
Der Einheitsraum auf der Drehbühne vereinigt Brandmauern von Berliner Hinterhöfen, Treppenhäuser und –Fluchten mit der für zwei Akte á la Christo verhängten Front der New Yorker Börse.
Wiedervereinigungseuphorie mit gesteigertem Alkoholkonsum
Die Erzählweise macht keinen Sprung zurück in ein andere Zeit, wie bei der „Walküre“, sondern knüpft historisch an die im „Siegfried“ gespielte Zeit der späten DDR an, zeigt die frühe Wiedervereinigungseuphorie mit gesteigertem Alkoholkonsum. Das beginnt zunächst wenig schlüssig mit jenem silbernen Boller-Wohnwagen, den Siegfried offenbar von seinem Ziehvater Mine geerbt hat und nun mit Brünnhilde, später auch mit Gutrune, bewohnt. Kinderpuppen kommen dabei ins Spiel, als mögliche gemeinsame, geistige oder körperliche Kinder des Paares Siegfried-Brünnhilde und auch anstelle des Rosses Grane.
Da der nächste Schauplatz, Gunthers Dönerbuden-Imperium, direkt neben dem Wohnwagen situiert ist, muss Siegfried keine Rheinfahrt antreten, sondern legt sich zum Schlafen auf eine über zwei Bierfässern improvisierte Sitzfläche. Als neues Mittel der die Aktionen vergrößernden oder aus abgewandten Teilen der Drehbühne übertragenden Erzählweise per Video-Projektion, werden negativ projizierte Infrarot-Aufnahmen als gefahrenvolle Angstmomente eingesetzt. So erstmals bei dem von Abenteuern träumenden Siegfried, dann, wenn Siegfried als Gunther verkleidet und mit dunkler Sonnenbrille statt Tarnhelm Brünnhilde niederringt und den ihr geschenkten Ring wieder abnimmt, schließlich auch in der Szene von Siegfrieds Tod.
Auf der filmischen Ebene entfiel die Hommage a David Lynch mit den Dejavu-Momenten der verschwundenen und wieder auftauchenden Leiche im Kofferraum des Mercedes-Cabriolets der Rheintöchter. Während der Waltrauten-Szene (von Claudia Mahnke sehr einfühlsam interpretiert), erlebt der Zuschauer die aktuelle Gefühlslage von Wotan in vorproduzierten Videos.
Kartoffelsalat
Während der vielfältig ins Spiel integrierte Castorf-Assistent Patric Seibert als aufrechter Kommunist noch eine rote Flagge schwenkt, bekommt Gutrune (Allison Oakes) ihr erstes West-Auto, eine BMW-Isetta geschenkt. Später, im dritten Aufzug, wird die blutüberströmte Leiche des Linientreuen entdeckt und von den Rheintöchtern in den Kofferraum ihres Mercedes verfrachtet.
Zum Volksfest wird die Ankündigung von Gunthers Braut, mit Deutschland-Fähnchen, Alkohol-Missbrauch und dem an der Volksbühne Berlin als Requisit besonders beliebten Kartoffelsalat. Als sich der Castorf-Mitarbeiter in der Rolle als diebischer Betreiber von Gunthers Döner-Box beim Kartoffelschälen die Hand blutig schneidet, steckt er sie zur Blutgerinnung in den Kartoffelsalat. Dieses groß projizierte Detail löst Lacher aus, ebenso dann die Probleme der Rheintöchter, als der Motor ihres Cabrios nicht anspringt.
Schlafstelle für Asylanten
Im dritten Aufzug ist die magische Kultstätte zu einer Schlafstelle für Asylanten geworden. Erneut wird im Spiel Siegfrieds Rüpelhaftigkeit betont, denn der trinkt dort mit einem Alkoholiker, macht sich an dessen Partnerin heran und schlägt anschließend brutal auf den wehrlosen Namenlosen ein.
Die Übertragung der Handlung in die jüngere Vergangenheit tut sich weiterhin schwer mit den Waffen des Originals. Als Speerersatz reißt Siegfried eine Latte aus einem Zaun, dann wird die „helle Wehr, heilige Waffe“ kurzzeitig durch einen Speer ersetzt; aber den Mord an Siegfried vollzieht Hagen mit einem Baseballschläger.
Auf der Zitatebene bemüht Castorf den Kultfilm „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein (der aus Anlass des Hitler-Stalin-Pakts in Moskau „Die Walküre“ inszeniert hat), mit einem Kinderwagen voller Kartoffeln, mit dem der Assistent als halbnackte Braut über die Stufen der hohen Treppe herunterpoltern lässt.
Bisweilen reibt sich der Regisseur in bewusster Nähe zu den Regieanmerkungen Richard Wagners: wenn Siegfried zu seinen Worten „Leben und Leib, so werf’ ich sie weit von mir“ im Original eine Erdscholle über seinen Kopf hält und wegschleudert, so ist es in der Neuinszenierung ein mit Sand gefüllter Koffer.
Ab der Hochzeit mit Gunther (Alejandro Marco-Buhrmester) trägt Brünnhilde ein goldenes Paillettenkleid, wie ihre Mutter Erda bei ihrem ersten Auftritt im „Rheingold“, (Kostüme: Adriana Braga Peretzki), am Ende entleert sie zwei Kanister aus dem Kofferraum des Mercedes und bahnt so der Feuerspur, den Weg zur Börse, an der – in Form eines Picasso-Gemäldes – auch Kunst gehandelt wird.
Petrenko dialektisch
Musikalisch gab es an diesem Abend einige Patzer, ganz abgesehen von schräger Intonation im Vorspiel und ersten Aufzug. Lance Ryan besserte sich von Auftritt zu Auftritt enorm und brillierte mit den gefürchteten, von ihm lang ausgehaltenen Spitzentönen Siegfrieds im Schlussakt. Cathetrine Foster als Brünnhilde hatte mehrmals Textschwierigkeiten, verpasste einige Einsätze, kam dann aber stets ohne Probleme schnell wieder in die Spur. Leider war selbst ihr Schussgesang nicht einwandfrei, doch siegte sie mit warmer dramatischer Tongebung und mit runder Stimmführung. Die überzeugendste Leistung des Abends boten die drei Rheintöchter Mirella Hagen, Julia Rutigliano und Okka van der Damerau, kontrastreich in der Darstellung, und wunderbar homogen im Zusammenklang.
Dialektisch überträgt Kirill Petrenko die detailreiche Erzählweise der Szene auf seinen Umgang mit Wagners Partitur: im großen Fluss des Orchesters wartet er immer wieder mit erhellenden Besonderheiten auf. So gehört die Zeichnung des schwelenden, dann bei Siegfrieds Nahen rund um den Walkürenfelsen wieder aufflammenden Feuers zu den klanglichen Höhepunkten. Selten nur wirken die herausgefilterten Einzelheiten plakativ oder aufgesetzt. Stimmig entwickelt sind auch die schrill und dissonant nahe, in den Alltagslärm integrierten Stierhörner der Bühnenmusik. Nach Siegfried Tod, beim Übergang zum Trauermarsch, arbeitet Petrenko die familiären Bezüge des Wotansprosses durch die betonte Akkordfolge der Toderkündung trefflich heraus. Am Ende klingt der Schlussakkord, orgelartig überhängend, lange nach.
Ein schriller Buhruf in der Stille forciert das lautstarke Pro und Contra der Besucher, gesteigert, als erstmals in diesem Sommer Frank Castorf und seine Mitarbeiter auf die Bühne kommen. Wie im Vorjahr nutzt der Regisseur dies als Personality Show, u. a. mit der Geste auf seine Uhr: er könne warten, bis den Buhrufern die Luft ausgehe. Küsschen und Umarmungen des Regisseurs mit Damen und Herren fallen gleichwohl dezenter aus als vordem im überaus sexbetonten Spiel auf der Bühne, insbesondere zwischen Siegfried und den Rheintöchtern, mit Gunther im Bunde.
Heftiger Zuspruch des beim Schlussapplaus partiell lange ausharrenden Publikums, mit Bravorufen für die Solisten, den Dirigenten und – wenn auch von Buhrufen konterkariert – für das Regieteam.
Die nächsten Aufführungen: 15. und 27. August 2013.