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„Gräfin Mariza“ an der Musikalischen Komödie Leipzig. Foto: Tom Schulze
„Gräfin Mariza“ an der Musikalischen Komödie Leipzig. Foto: Tom Schulze
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Verlustgefühle begrenzen: Die sanierte Musikalische Komödie Leipzig mit „Gräfin Mariza“

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Dreimal verschoben und jetzt vorerst digital: Im Herbst 2020, dann am 7. und 24. April sollte die Musikalische Komödie Leipzig endlich wieder ihr Stammhaus Dreilinden im Kulturquartier Leipziger Westen bespielen. Die umfassende Sanierung ist abgeschlossen. Erst am 8. Mai war Stream-Premiere von Emmerich Kálmáns „Gräfin Mariza“, aber die Eröffnungsinszenierung wurde schon vor dem Lockdown geplant.

Jetzt sang der Chor aus dem Zuschauerraum und im höhenverstellbaren Orchestergraben saßen 21 Musiker*innen. Statt des fröhlichen Gläseranstoßens im renovierten Venussaal oder im jetzt für Publikum zugänglichen Hof gab es eine filmische Ortserkundung über die neuen Vorzüge der Renovierung sowie die theaterpraktischen und publikumsbezogenen Verbesserungen – erläutert von Chefregisseur Cusch Jung, Chefdirigent Stefan Klingele und Betriebsdirektor Torsten Rose. Nach der digitalen Wiedereröffnung lud man zur digitalen Premierenfeier und zum Dialog mit den Beteiligten.

„Eigentlich müssten wir uns jetzt umarmen und küssen.“ sagt Mariza auf der Bühne vor dem Happyend zu den etwas ausgedünnten Massen, meint aber den feschen Tassilo. Dieser, der für einen Gutsverwalter gehaltene Wunschheiratskandidat der Gräfin, die sich Männer bisher mit Tricks vom Leibe hielt, ergänzt fast lakonisch: „Wie früher!“. Eine fiktive, mit starken Vorurteilen wie Stehlen und Wahrsagen behaftete ethnische Gruppe, die bis vor kurzem von „Carmen“ bis „Notre Dame“ durch die Musiktheater-Literatur tobte, wurde in dieser neuen „Gräfin Mariza“ getilgt: „Komm, mein Freund“ singt Adam Sanchez als Tassilo in blendender stimmlicher Verfassung, indes Manja (Claudia Otte Tschekko) fast wie in Tscherkessinnen-Tracht auftritt und die feine Gräfin Mariza einen beinlangen Schlitz im Rock hat, indes ganz viel rotes Licht erglüht. Lilli Wünscher ist in vielerlei Textilien von Schlaghosen bis zum Revuekleid jeder Zoll eine sprachgewandte und tonsichere Operettendiva, der man hier das Piroschka-Folklorekostüm ersparte. Sonst setzte Ulrich Wiggers in seiner Inszenierung alles daran, betreffend große Gesangs- und Ausstattungsoperette so wenig Verlustgefühle wie möglich wachzurufen. Mirko Mahrs Ballett ist glutvoll dabei.

Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung versprach in seiner Begrüßung ein rauschendes Eröffnungsfest post coronam. Diese erste Premiere war leider nur digital. Die Spielzeit 2019/20 und den kurzen Theaterherbst 2020 verbrachte man in der nah gelegenen Ersatzspielstätte Westbad, weil die Bauarbeiten und die Sanierung länger dauerten als geplant: Im Sommer 2020 wurden statische Probleme an der Kellerdecke sichtbar. Die sächsische Versammlungsstättenverordnung schreibt zwingend eine maximale Last von 500 kg/m2 vor. Deswegen wurde eine neue statische Lösung für den Zuschauerraum gesucht. Vorgesehen waren für die Sanierung ursprünglich knapp 7 Mio. Euro aus der öffentlichen Hand. Die Mehrkosten für die Schadstoffentsorgung und die neue Statik-Lösung für den Zuschauerraum bei der schließlich erreichten Gesamtsumme von fast 10 Millionen Euro brachte die Oper Leipzig, zu der die Musikalische Komödie gehört, auf. Jetzt strahlen die Innenräume und der für kleine Stücke oder Kammerkonzerte nutzbare Venussaal in neuem Glanz und der Zuschauerraum mit einer um 100 auf 640 Sitze erhöhten Platzkapazität. Die aufsteigenden Sesselreihen in den früheren Rang garantieren eine vorteilhafte Sicht vor fast allen Plätzen. Auf den Seitenbalkonen links und rechts wurden Zweierreihen in unterschiedlicher Sitzhöhe angeordnet, das Tonpult befindet sich im Saal. Der Komfort vom Zuschauerraum über die Foyers bis zu der Freianlage im Hof beeindruckt.

Bis zu 2,60 Meter Tiefe ist der Orchestergraben absenkbar. Durch ebenerdige Zugänge oder Rampen werden in Zukunft Transport und Aufbau wesentlich vereinfacht. Die Premiere von Emmerich Kálmáns Operette „Gräfin Mariza“ fand am 24. April ohne Publikum statt und wurde am 8. Mai gestreamt. Erst bei den nächsten Produktionen wird man sich die Vorzüge des optimierten Ortes erobern. Bei der Stream-Premiere wich die Kamera während der Vorstellung nur selten von der Bühne ab, so dass sich die Vorteile und Reize des sanierten Hauses erst beim physischen Besuch erschließen werden. Bei den Proben wurden die beträchtlichen akustischen Verbesserungen bereits offenbar, als man abwechselnd mit bzw. ohne Mikroports und eine dezente Verstärkung des Orchesters erprobte.

Der Chor (Leitung: Mathias Drechsler) muss die verwickelten Flirt-Reibereien der ungarischen Gräfin, ihres Verwalters Tassilo, von dessen Schwester Lisa (Mirjam Neururer) mit Kálmáns Schweinefürst Koloman Zsupán (Jeffery Krueger) aus dem Zuschauerraum kommentieren. Ensemble-Neuzugang Vikrant Subramanian gibt als Fürst Populescu einen verschmitzten Charmeur. Milko Milev als Kammerdiener, der mit seiner Herrin Fürstin Božena (Angela Mehling) einen fast intimen Konversationston pflegt, zeiht reichlich klassische Komiker-Kalauer und Michael Raschle (Karl Stephan Liebenberg) mahnt mit Charakter zur wirtschaftlichen Vorsicht. Zum Glück kann das in einigen Partien doppelt besetzte Ensemble sich digital nicht mit ebenso kräftiger Überzeugungsarbeit in die Herzen der Zuschauer spielen wie 'in Echt'. Die Veranda-Schnitzereien in der Dekoration Leif-Erik Heines lassen eher an das anthroposophische Goetheanum als an mondänen Art déco denken. Tobias Engeli am Pult und das Orchester entwickeln eine warme und prickelnde Schärfe, in der Streicher Kalmáns lustvoll ausgedachte Ungarismen wohlig köcheln und schmelzen lassen.

Im Umfeld der „Mariza“-Proben entstanden durch Vermittlung von Chefdirigent Stefan Klingele kurze Filmspots über das Haus und die Menschen der Musikalischen Komödie mit den Filmkünstlerinnen Nina Moog, Johanna Seggelke, Paula Tschira, Carlotta Wachotsch, Mila Zhluktenko und Marie Zrenner von der Hochschule für Fernsehen und Film München. Diese werden in der neuen Rubrik „Nebenschauschätze“ auf dem YouTube-Kanal der Oper Leipzig veröffentlicht.

Als eines der beiden auf Operette und Musical spezialisierten Subventionstheater in Deutschland mit eigenem Orchester, Chor und Ballett kommen auf das Haus in den kommenden Jahren große Herausforderungen zu. Wie wird es sich als der Oper Leipzig beigeordnetes Theater positionieren und welche Schritte wird die Musikalische Komödie ab der Spielzeit 2022/23 unter den neuen Intendanten Tobias Wolff unternehmen? Im Premierenstau des Repertoiretheaters steht noch Jean Gilberts „Die Kinokönigin“.

Gräfin Mariza, Musikalische Komödie Leipzig: https://www.youtube.com/watch?v=KLGS1KBMhis (bis 10.05., 19:00)

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