Christine Mielitz inszenierte Schostakowitsch in Dresden, ein Wiedersehen mit der einstigen Assistentin von Harry Kupfer, der langjährigen Regisseurin an der Semperoper, wo sie eine Reihe unvergessener „Ikonen“ inszeniert hat. Dmitri Schostakowitsch auf gepackten Koffern – die Angst war sein ständiger Gast. Wir hören sie in seiner Musik, sie hat ihn auch nach 1956 nicht losgelassen, als mit Stalins Tod ein hoffnungsvolles Aufatmen durch die Welt ging. Ein Frühlingsgefühl, genannt „Tauwetterperiode“. Von Dauer war sie bekanntlich nicht.
Aber der so oft drangsalierte Komponist wurde in dieser Zeit plötzlich einmal richtig dreist und schrieb seine einzige Operette, bezeichnet als „musikalische Komödie“. Das 1958 entstandene Bühnenwerk „Moskau, Tscherjomuschki“ ist tatsächlich von all dem etwas – musikalisch sowieso, voll von Anspielungen und Zitaten, aber auch Komödie mit mal deftigem, mal grantigem Witz, und sowieso Operette, die von Liebe und Eifersucht, von ganz großen Träumen und menschlichem Kleinmut berichtet.
Tscherjomuschki ist ein Stadtteil von Moskau. Aus dem Boden gestampft, um den Menschen endlich Wohnraum zu geben, damit Ehepaare und Familie würdig leben und so etwas wie eine Privatsphäre aufbauen können. In Dresden wird dieser Name mit Vogelbeerbaum übersetzt und natürlich ist dieser Strauch auch auf der Bühne präsent.
Regisseurin Christine Mielitz, die seit Anfang der 1970er Jahre in Dresden tätig war und hier unter anderem Wagners „Lohengrin“ und vor allem Beethovens „Fidelio“ als bis heute unvergessene „Ikonen“ des Musiktheaters herausgebracht hat – später sorgte sie als Intendantin in Meiningen mit Wagners „Ring“ an vier aufeinanderfolgenden Tagen (mit Kirill Petrenko am Pult und Alfred Hrdlicka als Ausstatter) sowie im gleichen Amt an der Oper Dortmund für Aufsehen. Dass dieser Schostakowitsch nun die erste Dresdner Regiearbeit von Mielitz nach ihrem legendären „Fidelio“ von 1989 ist, klingt sehr überraschend, wenn man bedenkt, wie präsent sie durch ihre früheren Inszenierungen nach wie vor ist.
Ob „Moskau, Tscherjomuschki“ nun daran anknüpfen kann? Das Stück wird auf der einstigen Probebühne des Hauses gezeigt, einem Zweckbau mit Namen „Semper 2“. In der Ausstattung von Christian Rinke verströmt dieser Raum ein wandelbares Estradenambiente mit, natürlich, viel russischem Rot.
Die „Neuen Menschen“ sollen im neuen Stadtteil Tscherjomuschki geschaffen werden. Schostakowitsch hat dazu auf ein Libretto von Vladimir Mass und Michail Tscherwinski musikalische Feuerwerke geschrieben, voll Witz und Melancholie. Darin blitzen Volksmusik und Revolutionsklänge auf, um Sehnsüchte im Kleinen wie im Großen zu illustrieren und wohl auch die Idee dieses Vielvölkerstaats realistisch erscheinen zu lassen. Doch welcher Abstammung die Menschen auch immer sein mögen, bestimmte Charaktere tauchen überall auf. Und so ist auch dieses Ensemble, das sich nach Tscherjomuschki aufmacht wie ins gelobte Land, durchmischt von Edelmut, Gemeinsinn und Liebe ebenso wie von Gier, Korruption und Verbrechen.
Ein Paar, das sich bislang nur beim Schlangestehen treffen konnte, bekommt eine Wohnungszuweisung samt Schlüssel. Die anderen Mieter gehen leer aus, haben zwar rote Zettelchen, bestechen den Hausverwalter mit Geld, Schnaps und einem Samowar, erhalten aber keinen Zugang. Also trifft sich alles bei Sascha und Mascha, die in den diversen Schlangen vor den Geschäften der Stadt womöglich glücklicher gewesen sind. Bevor diese Feier im Alkohol kulminiert und es gar zu einem antijüdischen Ausbruch kommt, werden ein paar Figurentypen eingeführt, die klassische Zeitbilder vermitteln. Der Funktionär Drebednjow, der nur Augen für sein neues Flittchen hat, aber ganz übersieht, dass es dem nicht um Liebe geht, sondern um Wohlstand durch die Nähe zur Macht. Die reizende Lidotschka, die sich rührend um ihren alten Vater sorgt und dem Werben des dreisten Elvis-Verschnitts Boris lange widersteht. Dessen Freund Sergej, der Drebednjows Chauffeur ist und die glühende Wohnungserbauerin Ljusja warten lässt. Sie alle hängen irgendwie an der Gunst des Verwalters Barabaschkin, der diese Abhängigkeit weidlich auskostet. Ein fieser Zuhältertyp.
Christine Mielitz hatte für ihre nie diffamierende Inszenierung ein spielfreudiges und gesangsstarkes Ensemble aus den Reihen des Hauses sowie aus dem Jungen Ensemble nebst dem agilen Sinfoniechor Dresden zur Verfügung. Just dieser Mix sorgte für Frische und Glaubwürdigkeit. Alexander Hajek und die kurzfristig eingesprungene Ewa Zeuner etwa als jüdisches Paar Sascha und Mascha bringen Größe und Tragik der Figuren auch stimmlich auf den Punkt, Tom Martinsen als alter Barburow glänzt mit feiner Distinktion und dürfte stolz sein auf seine Tochter Lidotschka, die Nadja Mchantaf hinreißend singt und betörend spielt. Unschuldsvoll hält sie ihrem draufgängerischen Boris lange stand, bis der – Sebastian Wartig mit auch vokaler Potenz – endlich den richtigen Dreh findet. Christel Loetzsch und Adam Frandsen als Ljusja und Sergej geben ein widerspruchsvolles Paar und stellen diese Kontraste deutlich heraus. Christiane Hossfeld schließlich als vierte Ehefrau des stalinesk drapierten Funktionärs Drebednjow gibt ein lispelndes Weibchen, das den dicken Gemahl gern als Marionette gebraucht, bis ihm – wankelmütig zwischen stark aus Geilheit und schwach aus Gier: Matthias Henneberg – endgültig der Kragen platzt. Ein Kabinettstück besonderer Art gelingt Michael Kranebitter als Halunke Barabaschkin, der sich sogar mit einer alten Stalin-Büste schmieren lässt.
Um zu zeigen, dass der „Alte Mensch“ ausgedient haben sollte, wird tief in die Trickkiste gegriffen und im Neubaugebiet ein Zaubergarten eröffnet. Dort wird die Zeit der Liebenden sichtbar und allen Menschen die Wahrheit entlockt; die Gaunereien von Genossen und Ganoven müssen verstummen.
Dass es so einfach nicht ist, zeigt ein Blick in die Geschichte – nicht nur von Russland! An dieser Stelle wird Schostakowitschs Komödie, der Christine Mielitz neben zahllosen Spielideen auch ein zünftiges Rattenballett beigab, durchaus heutig. Wenngleich zahlreiche Videos (Knut Geng) historisches Flair verströmten und neben innerem Auflachen wohl auch manches Kopfschütteln auslösten. Menschheitsfragen in engen vier Wänden und in der ganzen Welt: Was lassen wir mit uns machen, was muten wir anderen zu?
Sehr gegenwärtig ist nicht zuletzt die Musik, hier in einer Fassung für kleines Orchester, die der russische Dirigent Mikhail Agrest mit seinen weit über der Spielfläche verteilten Musikern (Giuseppe-Sinopoli-Akademie der Sächsischen Staatskapelle) geradezu blumig und dennoch prägnant zu adeln vermochte. Niemand, der ohne Ohrwurm die Vorstellung verließ.
Schostakowitsch hat seine gepackten Koffer nicht auskomponiert. Wohl aber die beständige Furcht vor überraschendem Besuch, der immer ein Abgeholtwerden bedeuten konnte. Just dieses Türklingeln steckt im Stück als Pointe mit drin – da sehnt sich der zum Individuum erhobene Mensch doch wieder nach der Geborgenheit in der Masse.
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Termine: 23., 25., 28.2., 2., 4., 6., 28., 30., 31.3., 2.4.2014