Cosima Wagner, Witwe des Bayreuther Meisters, sah mit Grauen dem Silvestertag 1913 entgegen, denn an diesem Tag endete um 24 Uhr die Schonfrist für das Bühnenweihfestspiel „Parsifal“, das nach dem Willen ihres Ehemannes bis dahin nur auf dem Grünen Hügel der ehemaligen oberfränkischen Residenzstadt aufgeführt werden durfte.
Ursprünglich hatte Wagner sogar verfügt, dass dies für alle Zeiten zu gelten habe. „Nie soll der ,Parsifal‘ aus irgendeinem anderen Theater dem Publikum zum Amüsement dargeboten werden.“ In Unkenntnis bestehender Gesetze wollte Wagner sein letztes Opus vor dem „Schicksale einer gemeinen Opern-Karriere bewahren“, wie er in einem Brief seinem großen Gönner König Ludwig II. im September 1880, also zwei Jahre vor der Uraufführung am 26. Juli 1882, mitteilte. Er musste sich jedoch mit dem international festgelegten Urheberrechtsschutz, der im Fall „Parsifal“ nach seinem Tod am 13. Februar 1883 in Venedig für eine Dauer von nur dreißig Jahren eintrat, abfinden; heute sind es siebzig. Wagner ließ nur eine Ausnahme zu: Da der menschenscheue Märchenkönig nicht nach Bayreuth reisen wollte, konnte er in einer Separatvorstellung im Frühjahr 1884 den „Parsifal“ in München erleben.
Vor hundert Jahren, am Neujahrstag 1914, wurde die Oper quasi für vogelfrei erklärt. In aller Welt hatte bereits ein Wettrennen unter einem halben Hundert von Musiktheatern eingesetzt, die als erste das Werk ihrem Publikum präsentieren wollten. Eindeutiger Sieger war das als „wagnerlastig“ geltende Gran Teatre del Liceu in Barcelona, deren Musiker und Sänger in den Startlöchern lauerten, um auf die Sekunde genau mit Beginn des neuen Jahres Wagners große Schöpfung fern vom 1.200 Kilometer entfernten Bayreuth ertönen zu lassen. Während draußen auf den Rambles Raketen in den Himmel zischten und Champagnerkorken knallten, erklang im Liceu der „Karfreitagszauber“. Am Nachmittag dieses Tages stand in Deutschland in den Opernhäusern von Charlottenburg, damals noch ein selbständiger Berliner Vorort, Bremen, Breslau und Kiel „Parsifal“ auf dem Programm, auch aus Prag und Budapest wurden an diesem Tag solche Aufführungen gemeldet.
Wagners Gralshüterin hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um im Reichstag eine Verlängerung des Urheberrechts um weitere zwanzig Jahre zu erreichen. Auf die Wagnerianer an ihrer Seite konnte sie sich verlassen. Überall in Deutschland bildeten sich „Komitees zum Parsifal-Schutz“. Die Kampagne nahm teilweise hysterische Züge an. Als der angesehene Musikkritiker Paul Bekker, ein Jude, in der „Frankfurter Zeitung“ davor warnte, die Wagner-Opern in eine säkulare Religion und Bayreuth in einen Zufluchtsort für kulturelle Reaktionäre zu verwandeln, brandete ihm eine antisemitische Hasswelle entgegen. Zu den prominenten Mitstreitern Cosima Wagners zählten auch der Komponist Engelbert Humperdinck sowie Richard Strauss, Giacomo Puccini und der Dirigent Arturo Toscanini. Sie gehörten zu den Mitunterzeichnern eines Gesetzesvorschlags , der an den deutschen Reichstag ging. Doch die Parlamentarier gingen darauf nicht ein, die Vorlage, spöttischerweise als „lex Cosima“ verlacht, wurde nicht einmal in einem Ausschuss behandelt.
Natürlich steckten hinter den Bemühungen der „Hohen Frau“, die Schutzfrist zu verlängern, handfeste finanzielle Interessen. Die Herrin des Hügels befürchtete einen Rückgang des Besucherstroms, der dann tatsächlich 1914 eintrat, aber aus einem ganz anderen Grund: Die am 22. Juli eröffneten Festspiele standen nämlich ganz im Schatten des Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni in Sarajewo. Die Donaumonarchie hatte bereits gegen Serbien mobil gemacht, es drohte der Ausbruch eines großen Krieges. Viele Wagner-Enthusiasten waren erst gar nicht angereist und hatten ihre Karten zurückgegeben. Tatsächlich brach noch während des Festspiels am 1. August der Weltkrieg aus, auch in Bayreuth gingen die Lichter aus. Das Defizit war mit 400.000 Mark beträchtlich, in Euro umgerechnet, waren das vier Millionen.
Übrigens hatte Cosima Wagner schon 1903 einen herben Schlag hinnehmen müssen. Da die USA nicht dem internationalen Abkommen über den Urheberrechtschutz beigetreten waren, konnten die New Yorker bereits am Heiligabend in der Metropolitan Opera „Parsifal“ sehen und hören. Dirigent war der aus Frankfurt stammende Alfred Hertz. Wegen dieses „Frevels“ traf ihn nicht nur der Bannstrahl der Witwe, sondern aller deutschen Bühnen. Hertz dürfte das wenig berührt haben, er war bereits US -Bürger und kehrte nicht mehr nach Europa zurück. In den USA nahmen sehr bald auch die anderen Opernhäuser „Parsifal“ in ihr Repertoire auf.