Und dann ist da plötzlich eine zweite Oboe. Kaum merklich nimmt deren konservierter Klang per Lautsprecher mehr und mehr vom Raum Besitz. Eingespielt hat diese Stimme Sarah Nemtsov, die Komponistin des Biennale-Auftaktwerks „L’Absence“, die sich ihrem Stück somit auch als Instrumentalistin eingeschrieben hat.
So scheint in dieser, in ein virtuelles Zwiegespräch mit der Orchesteroboe mündenden Passage auf zweierlei Weise die Essenz von Nemtsovs Musiktheater beschlossen zu sein: Sie kann zum einen als Chiffre für die Persönlichkeitsspaltung ihrer Hauptfigur, der vom Holocaust traumatisierten Sarah gelesen werden, die hier auch auf der Bühne von einer Tänzerin gedoppelt wird. Zum anderen bringt die Komponistin damit – zu Beginn der Szene haben einige Instrumentalisten bezeichnenderweise mit ihren Noten zu rascheln – eben jenes Sujet zum Klingen, das auch im Zentrum der literarischen Vorlage steht: die Frage nach der Erzählbarkeit (Komponierbarkeit) eines inneren Geschehens, das von Verlust, von Abwesenheit („L’Absence“) handelt und gleichzeitig den Schreib- und den Lesevorgang, also die An- bzw. Abwesenheit von Autor und Rezipient thematisiert.
Dieser Schlüsselmoment macht somit musikalisch nachvollziehbar, was Sarah Nemtsov an Edmond Jabès’ Zyklus von Nicht-Romanen „Livre des questions“ (Buch der Fragen) inspiriert hat: Als eine Art literarisches Mosaik stellt er anhand der Frage nach der Erzählbarkeit des Holocaust die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit von Literatur, und das in einer Sprache, die immer wieder von bezwingender poetischer Kraft ist.
Die Leserin und Librettistin Nemtsov hätte es der Komponistin Nemtsov aber möglicherweise einfacher gemacht, hätte sie sich von der einen oder anderen Szene und damit von manch schöner Jabès-Passage getrennt. Vielleicht ist diese Zeitdimension aber auch die Voraussetzung dafür, dass sich ihre zentrale kompositorische Idee nach einer knappen Stunde umso klarer mitteilt. So lange dauert es, bis wir Sarah singen hören. Zuvor bewegen sich der Leser (Sprechrolle) und der Erzähler (Altus) im Prolog „an der Schwelle des Buches“, wird bis zur ersten Szene des dritten Aktes Yukel, Sarahs (früherer) Geliebter allmählich als Figur eingeführt, treten fünf Rabbiner auf, die das (Nicht-)Geschehen auslegen, liegen Liebe und Tod („Rose 1 und 2“) im Streit miteinander, wem das einander entrissene Paar denn nun angehören soll.
Auf musikalischer Ebene ist ihnen allen gemeinsam, dass ihr Gesang offenbar bewusst Fremdkörper bleibt oder vom Orchester auch übertönt, ausgelöscht wird. Es liegt etwas vergebliches in ihrem Bemühen um klare Diktion (Bernhard Landauer als Erzähler), um Ausdruck (Bariton Assaf Levitin als Yukel), um intellektuelle Brillanz (Rabbiner-Chor), um dialogische Schärfe (die „zwei Rosen“ Nitzan Yogev und Anat Edri). Dann aber legt sich in der zweiten Szene des dritten Aktes (als genau an der Mittelachse des Werkes) die Sopranstimme Tehila Nini Goldsteins über den Instrumentalklang, wird dessen integraler Bestandteil, geht („dein Körper enthält dich nicht mehr“, singt Yukel über seine Sarah) in diesem völlig auf.
Während für alle anderen das Orchester eine Klangmauer bildet, die sie vom Publikum trennt, begibt Sarah sich in diesen Klang ganz hinein, um ihn schließlich – die eingespielte Oboe hat ihr die Mauer geöffnet – im fünften Akt schreiend zu durchbrechen („Ich höre den Schrei nicht. Ich bin der Schrei.“): ihr Wahn schlägt in Erkenntnis um. In Trommel- und Paukengetümmel löst sich die aufgestaute Spannung, die rhythmische Energie wirkt noch bis in den Epilog weiter, der Yukel, den Erzähler und uns mit ihrer Geschichte zurücklässt.
So zwingend Sarah Nemtsov dieser weite musikalische Bogen gelingt, so genau formt sie immer wieder auch die Mikrostruktur. Nicht selten eröffnet sie eine Szene mit einem in der Instrumentierung genau ausbalancierten, heftigen Schlag, der das klangliche Material des Folgenden in sich zu tragen scheint. Das anschließende Auffalten dieser Einzelereignisse in die Horizontale – mit großem Gespür geht sie beim Einsatz des Akkordeons und des Zimbalums der Gefahr des Folkloristischen aus dem Weg – ist dann freilich nicht immer in gleichem Maße über die Länge einer Szene tragfähig, zumal das Verhältnis zu den Singstimmen, wie angedeutet, durchgehend ein prekäres ist.
Prekär ist naturgemäß auch die szenische Umsetzung einer solch ambitionierten Dramaturgie. Jasmin Solfaghari setzt in den neonumrandeten, durch mobile, durchsichtige Wände immer in neue Konstellationen wandelbaren Bühnenkästen (Etienne Pluss) einiges von dem um, was die Komponistin im Libretto vorgesehenen hat. Dort, wo sie sich davon löst – etwa, was die strenge Trennung des Paars durch die auf die Mechiza anspielende Mauer betrifft, oder durch dezente Komik – überzeugen ihre Ideen indes kaum, lenkt das mitunter aktionistische Umarrangieren des Personals ab, statt zu fokussieren. Weitgehend verschenkt ist leider auch die Doppelung der Hauptfigur, so engagiert Evgenia Itkina diesen Tanzpart auch ausfüllte.
Getragen wurde dieser Biennale-Eröffnungsabend somit vor allem vom ausgezeichneten Ensemble und von einem Kollektiv, das man bei einer Musiktheateruraufführung dieses Kalibers nicht unbedingt erwarten würde: vom Bundesjugendorchester. Dirigent Rüdiger Bohn hat die knapp 30 jungen Musikerinnen und Musikern zusammen mit weiteren Dozenten mit erstaunlichem Erfolg in die ungewohnten Spielweisen, die vertrackte Rhythmik und die fein austarierten Balancen eingeführt. Die mangelnde Selbstverständlichkeit schien in eine ganz eigene Form der Intensität umzuschlagen. Ein schönes Zukunftssignal, ein vielversprechender Biennale-Auftakt.