Es gibt gleich einige gute Gründe, warum der Berner Andreas Schaerer derzeit der vielleicht interessanteste Gesangskünstler der Musikszene ist. Was damit beginnt, dass der aktuelle Preisträger des Echo Jazz in der Sparte „Gesang international“ weit mehr ist als nur ein Sänger und auch nur bedingt in die Schublade Jazz passt; Schaerer ist vielmehr ein Stimm-Jongleur, der sein Organ nicht nur in den verschiedensten Lagen und Stilen erklingen lassen, sondern damit auch alle denkbaren Geräusche erzeugen und allerlei Instrumente bis hin zum Schlagzeug imitieren und polyphon übereinander türmen kann. Er ist darüber hinaus ein glänzender Komponist, der diese Fähigkeiten für die verschiedensten Projekte variabel einsetzen kann. Und er verfügt schließlich in reichem Maße über Bühnen-Charisma und die in der „ernsten Musik“ eher seltenen Gabe des Humors, was vor allem bei seiner Paradeband „Hildegard lernt fliegen“ zur Geltung kommt.
So ist es folgerichtig, dass „Hildegard lernt fliegen“ vor einem Jahr den BMW Welt Jazz Award gewann, als dessen jährlich wechselndes Motto „Sense of Humour“ lautete; und dass man nun beim Lucerne Festival ins Spiel kam – lautet doch dessen Motto heuer „Humor“. Dramaturg Mark Sattler, beim Festival seit 16 Jahren für „zeitgenössische Projekte“ zuständig, fragte Schaerer, ob er nicht einen Hildegard-Auftritt mit einer 20-minütigen Komposition für das Lucerne Festival Academy Orchestra kombinieren wolle. Schaerer ergriff mehr als nur den gereichten Finger und schrieb gleich den kompletten 70-Minuten-Auftritt als „The Big Wig“ betiteltes Orchesterstück für 66 Musiker. Anfang September erblickte das kurz, aber intensiv geprobte, von Schaerer komponierte, arrangierte und orchestrierte, dann vom Hildegard-Saxophonisten Matthias Wenger feingeschliffene Werk im Luzerner KKL das Licht der Welt – und riss die Zuschauer von den Stühlen.
Paradoxerweise – hält man sich das Festivalmotto vor Augen – hat man wohl noch keinen „seriöseren“, weniger „lustigen“ Hildegard-Auftritt erleben können. Was die logische und bewusste Konsequenz daraus war, dass Schaerer alle Möglichkeiten des sinfonischen Rahmens ausschöpfte. Denn damit traten er selbst wie seine Hildegard-Mitstreiter sozusagen ins zweite Glied, um sich in den orchestralen Gesamtklang einzufügen. Die drei adaptierten Hildegard-Hits „Zeusler“, „Seven Oaks“ und „Don Clemenza“ gewannen so einen neuen Fluss und enorme, mitunter filmische Kraft und verloren die in der kleinen Besetzung latente Zickigkeit. Und die eigens geschriebenen Passagen wie „Two Colosses“ ergaben inspirierte Sinfonik mit einem Esprit und einer stets zugänglich bleibenden Experimentierlust, der den meisten neuen Werken dieses Genres fehlt. Und das junge, aber mit überragenden Talenten aus aller Welt gespickte und vom Dirigenten Mariano Chiaccharini lässig, aber präzise instruierte Orchester hatte sichtlich Spaß und ließ sich sogar vom kurz das Dirigentenpult enternden Schaerer auf Jazz-Abwege führen: Wann hat man je ein Sinfonieorchester gelungen kollektiv improvisieren sehen? Ohnehin ist die Kombination aus klassischem Orchester und Jazzband ja schon oft genug missglückt, zuletzt durfte man sich bei Geir Lysnes Monteverdi-Morricone-Hybridkompositionen vom Auftritt Michael Wollnys mit den 12 Cellisten in Berlin enttäuscht fühlen. Hier war es eine runde Sache, eine sinnvolle und befruchtende Symbiose, die allen Beteiligten nicht nur unvergesslich bleiben, sondern ihnen auch bei der weiteren musikalischen Entwicklung helfen wird.