Ortwin Nimczik ist seit 1994 Professor für Musikpädagogik und -didaktik sowie Leiter der Schulmusikabteilung an der Hochschule für Musik in Detmold. Seit November 2006 bekleidet er das Amt des Bundesvorsitzenden im Verband Deutscher Schulmusiker (VDS). Für die neue musikzeitung traf sich Susanne Fließ mit ihm zum Gespräch.
neue musikzeitung: Wie verlief Ihr beruflicher Werdegang?
Ortwin Nimczik: Ich hatte das Glück, in einer Zeit zu studieren, als es noch keine Studiengebühren gab. So konnte ich drei Studien abschließen: ein reguläres Musiklehrerstudium, ein künstlerisches Studium im Bereich Komposition, das mit der damals so genannten „Künstlerischen Reifeprüfung“ endete, und schließlich ein Promotionsstudium, das ich mit einer musikpädagogisch ausgerichteten Promotion bei Prof. Dr. Klaus Schaller abgeschlossen habe. Mein direktes Ziel war, Musiklehrer zu werden.
Ich unterrichtete in den folgenden Jahren am Gymnasium sowie an einer Gesamtschule vornehmlich Musik. Mein zweites Unterrichtsfach Erziehungswissenschaft spielte eine marginale Rolle. Ich unterrichtete, manchmal über ein ganzes Schuljahr hinweg, ausschließlich Musik. Auch damals herrschte Musiklehrer-Mangel, dies ist ja kein neues Phänomen. Nach fünf anstrengenden, aber schönen Arbeitsjahren wurde ich 1989 Fachleiter für Musik am Studienseminar in Dortmund. In den Begegnungen mit den Referendarinnen und Referendaren sowie der Kooperation mit den Kollegen an den verschiedenen Schulen in meinem Arbeitsbereich habe ich unendlich viel lernen können. All dies wurde für meine eigene Unterrichtstätigkeit äußerst anregend und für die weitere Tätigkeit sehr wichtig. Zum Sommersemester 1994 wurde ich dann nach Detmold berufen.
Wann kreuzten sich denn Ihre Wege zum ersten Mal mit denen des Verbandes?
Mit dem VDS kam ich schon Ende der 1970er-Jahre, also noch als Student, in Berührung. Der damalige Studiengangsleiter verteilte eines Tages in seinem Seminar Beitrittsformulare für den VDS. Leicht schmunzelnd und gemäß dem Motto: „Also, wenn Sie mal Examen machen wollen, dann sollten Sie schon ... “. Zu diesem Zeitpunkt war mir die Arbeit eines musikpädagogischen Verbandes allerdings noch gar nicht geläufig. Zwar wurde ich bald Mitglied, allerdings interessierte mich am meisten die Zeitschrift „Musik & Bildung“, die die VDS-Mitglieder aus NRW erhielten. Die regelmäßige Lektüre weckte mein musikpädagogisches Interesse und dadurch auch das am VDS. Ich nahm verstärkt die Angebote zu Fortbildungen wahr, stieg dann selbst in diese Arbeit ein und plötzlich war ich mitten drin in der Verbandsarbeit, zunächst im Rahmen der Fortbildung auf der Landesebene des VDS. Ab 1988 war ich regelmäßig Referent der Bundesschulmusikwochen. Die beständigen Gespräche, der Austausch und die Diskussionen mit den Kolleginnen und Kollegen in den Kursen wurden für mich zu einer Art Lebenselixier. Ab 1997 erstreckte sich meine Tätigkeit dann auch auf den Bundesvorstand, zunächst als Grundsatzreferent, dann als stellvertretender Bundesvorsitzender und schließlich, ab November 2006, im Amt des VDS-Bundesvorsitzenden.
Das Voneinanderlernen ist im VDS ein ausgeprägtes Prinzip?
Ja, das sehe ich so. Das Prinzip der Lehrerfortbildung im VDS war immer darauf ausgerichtet, Vorschläge zu machen, nicht schlichte Rezepte auszuteilen. Wir möchten Impulse setzen und Anregungen für den Musikunterricht geben. Sicherlich sollen die Kollegen sich mit ihrer eigenen Professionalität auch daran reiben. Schließlich müssen sie auswählen und entscheiden, was in ihrem Unterricht umsetzbar und machbar ist.
Aufgrund dieses Prinzips bekamen und bekommen Sie ja von der Basis sehr viel zurückgespiegelt. Hat sich dadurch die Lehre an den Hochschulen verändert?
Blickt man auf die letzten 20 Jahre zurück, dann hat sich Entscheidendes verändert: Die Ausbildung von Musiklehrern hat sich von einer musikwissenschaftlichen Verengung und einer falsch verstandenen künstlerischen Dominanz emanzipiert. Sie hat sich zu einem berufsbezogenen musikpädagogischen Ausbildungsgang entwickelt. In diesem Zusammenhang spreche ich lediglich die enorm gewachsene Bedeutsamkeit der Studienfelder Schulpraktisches Klavierspiel, Improvisation, Schulpraktisches Musizieren und Klassenmusizieren, Arrangieren oder Ensembleleitung an. Zudem spielt die Polyvalenz der Ausbildung eine wichtige Rolle, ebenso wie individuelle Profilbildungen und Akzentsetzungen. Die besondere Integrationsleistung im Musiklehrerstudium besteht vor allen Dingen darin, die verschiedenen Studienfelder zusammenzuführen und auf die Schulpraxis hin zu fokussieren. Die Schule von heute und die Schule der Zukunft braucht Musiklehrer, die äußerst engagiert am Aufbau musikalischer Kompetenz ihrer Schüler arbeiten, die Schüler im gemeinsamen Singen und Musizieren, in der Ensemblearbeit begeistern und die mit ihren Schülern die Dimensionen der Musikkultur erschließen.
Der Wechsel an der Spitze des VDS war ja ein sanfter, denn seit 1997 gehörten Sie dem Vorstand schon an. Wird es unter dem neuen Bundesvorsitzenden neue Schwerpunkte geben?
Ich möchte zunächst noch nicht von neuen Schwerpunkten sprechen, denn mein Vorgänger, Freund und Kollege Prof. Dr. Hans Bäßler hat dem VDS eine Richtung gegeben, die zu 100 Prozent auch meiner Vorstellung entspricht.
Der VDS hat in der Verbandsarbeit sehr deutlich Signale gesetzt: Wir haben bildungspolitische Positionen bezogen. Und gemeinsam mit den anderen musikpädagogischen Verbänden – ich nenne stellvertretend für alle den AfS, die DOV und den VdM – konnten wir erfolgreich vermitteln, dass musikalische Bildung ein existentielles Gut für uns Menschen ist, dass Musikerziehung bedeutsam und ein integraler Bestandteil unseres Bildungsauftrages ist – ja, dass Musik Bildung ist. Diese Position bleibt aus meiner Sicht unaufgebbar: Wir wollen die Bedeutsamkeit dieser Position weiter herausstreichen und sie – das ist das Entscheidende – auch in der Praxis immer mehr durchsetzen. Es gibt viele Erfolg versprechende Ansätze. Dennoch bleibt im Detail der Eindruck, dass der stärkste Kultus- oder Schulminister schwächer ist als der schwächste Finanzminister.
Ganz wichtig für die Zukunft bleibt die intensive Pflege der musikpädagogischen Arbeitsfelder: In den Kindergärten, den Kindertagesstätten, den Familienzentren, der Grundschule, den Förderschulen und allen anderen Schulformen bis hin zu einem lebenslangen musikalischen Lernen. Verstärken möchte ich in Zukunft das Teamwork-Verfahren zwischen dem Bundesvorstand des VDS und den verschiedenen Landesverbänden. Das ist insofern eine Herausforderung, als der VDS föderal aufgebaut ist. Dies bedeutet auch, dass wir nicht schablonenhaft vorgehen können und Vorgehensweisen, die in einem Land oder in einer Region funktionieren, einfach allerorts übertragen. Dennoch: es müssen gemeinschaftlich Grundpositionen formuliert und vertreten werden. An erster Stelle steht hier die Forderung nach kontinuierlichem Musikunterricht. In diesem Zusammenhang wird die Kommunikation innerhalb und außerhalb des Verbandes immer bedeutsamer. Hierbei soll in Zukunft die Homepage des VDS eine ganz entscheidende Rolle spielen. Dafür setze ich auf die hohe Kompetenz aller Mitarbeiter im Bundesvorstand.
Und schließlich liegt mir sehr am Herzen, junge VDS-Mitglieder zu gewinnen und sie zur Mitarbeit im Verband zu motivieren. Zwar ist als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu beobachten, dass man sich weniger in Verbänden, Kirchen, Parteien und Vereinen binden möchte. Wenn wir aber unserer Zielgruppe vermitteln können, dass der VDS konkret etwas für sie tut, gewinnen wir sie auch als motivierte Mitstreiter.
Der VDS formuliert auf seiner Website eine Reihe von Zielen. Hat sich denn Ihrer Einschätzung nach ein Ziel schon so weit erfüllt, dass man das Engagement in diesem Bereich zurückfahren oder gar einstellen kann?
Nein, leider können wir uns bei keinem Aspekt gemütlich zurücklehnen. Nehmen Sie nur das Beispiel der Musikerziehung in den Kindergärten. Schon Leo Kestenberg hat in den 1920er-Jahren die Defizite ganz konkret beschrieben. Die schulpolitischen Entscheidungsträger laborieren freilich noch immer an dieser Problematik. Von Verbandsseite fordern wir dringend eine Verbesserung der musikpädagogischen Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Sie muss elementarer Bestandteil dieses Berufsbildes werden, so wie auch die Praxis des Singens und Musizierens ihren festen und professionellen Ort in dieser Ausbildung haben muss.
Nehmen Sie nun zweitens die Grundschulen: Die Zahlen, die öffentlich vor liegen, besagen, dass im Bundesdurchschnitt nur etwa 20 bis 30 Prozent des Musikunterrichtes von Fachpersonal gegeben wird. Sicherlich gibt es Grundschulpädagogen, die mit den Kindern singen – es geht jedoch um viel mehr: Musikunterricht muss von Anfang an perspektivisch, das heißt aufbauend angelegt sein. Es geht darum, Zusammenhänge herzustellen. Wir brauchen viel mehr gut ausgebildete Musiklehrer für den Grundschulbereich. Übrigens: Stellen Sie sich den Grad von Entrüstung vor, wenn Eltern erfahren würden, dass der Mathematikunterricht nunmehr vom Geschichtslehrer erteilt wird! Leider fehlt uns im Musikbereich in der Elternschaft eine entsprechende Lobby. Die Öffentlichkeit ist fixiert auf die so genannten „harten“ Fächer.
Welche Einwirkungsmöglichkeiten sieht hier der VDS?
Es geht nicht darum, Musik im falschen Sinne als „hartes“ Fach zu etablieren. Es ist aber auch kein Nebenfach oder gar ein Neben-Neben-Fach mit kompensatorischer Bedeutung. Wir möchten das Bewusstsein schärfen, dass Musikunterricht ein Bestandteil unserer allgemeinen Bildung ist und zentrale Alleinstellungsmerkmale hat. Musikunterricht vereint sowohl Erlebnis- als auch Ausdrucksfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Rationalität. Musikunterricht stellt den Menschen in lebendige Kulturzusammenhänge, er leistet einen Beitrag zur Identifikation, bündelt emotionale, soziale und kognitive Qualifikationen und erzieht zur Kreativität, fördert Teamfähigkeit, Lösungsorientiertheit sowie ganz besonders Sensibilität im auditiven Bereich.
Wie muss ein Verband im 21. Jahrhundert aufgestellt sein?
Lassen Sie mich die Zukunftsfähigkeit mit dem Begriff „Kooperierende Systeme“ beschreiben und betrachten wir die Lehrer, die jetzt im Schuldienst sind. Sie haben Ausbildungen erhalten, die zu einem großen Teil noch von nicht-kooperierenden Systemen ausgingen. So muss man folglich einen Blick auf die Ausbildungsinstitute werfen: Wie werden Studenten an den Musikhochschulen auf die spätere Praxis vorbereitet? Künftig müssen die Grenzen, die wir bisher zwischen musikpädagogischen Studiengängen hatten, neu überdacht werden und an vielen Stellen halte ich sie auch für überflüssig.
Womit beschäftigen Sie sich als Bundesvorsitzender des VDS aktuell?
Momentan nimmt die Vorbereitung der 27. Bundesschulmusikwoche im September 2008 in Stuttgart einen großen Teil meiner Zeit ein. Hier arbeiten wir ganz eng mit dem VDS-Landesvorstand Baden-Württemberg zusammen. Daneben planen wir die bundesweite 11. VDS-Fachleiter-Tagung. Sie wird vom 19. bis 23. November 2007 in Celle stattfinden und ist dem Thema „Aufbauender Musikunterricht“ gewidmet. Last but not least stecke ich zusammen mit meinem Stellvertreter Markus Köhler in den Vorbereitungen zu einer VDS-Zeitschrift, die ab November 2007 der nmz beiliegen wird. Zweimal im Jahr soll künftig aus VDS-Sicht über musikpädagogische Aufgabenstellungen und Perspektiven informiert werden, wir möchten Positionen einander gegenüber stellen und Diskussionen anregen. Die Verbreitung derartiger „Transpositionen“ über die nmz ist aufgrund ihrer heterogenen Zielgruppe und hohen Auflage eine ideale Chance, bundesweit musikpädagogische Präsenz zu zeigen.
Und wie lautet Ihr Wunsch für die Zukunft des Musikunterrichts?
: Ich erlaube mir an dieser Stelle, zwei Wünsche zu äußern. Zunächst möchte ich junge Leute dazu bewegen, den gleichermaßen schwierigen wie interessanten Musiklehrerberuf zu ergreifen. Musiklehrerinnen und -lehrer werden gebraucht! Ich wünsche mir des Weiteren einen Musikunterricht, den Schüler und Lehrer lebendig und kreativ miteinander gestalten. Vor einiger Zeit stand ich wieder einmal vor einem Aquarell von Paul Klee aus dem Jahre 1930, das in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf zu betrachten ist. Es trägt den Titel „Hat Kopf, Hand, Fuß und Herz“. Dieses Bild steht für mich modellhaft für die Vision eines modernen Musikunterrichts: Musikunterricht braucht Hand und Fuß, das heißt er muss bodenständig sein, den gesamten Körper, die (musikalische) Bewegung und Handlung umgreifen. Musikunterricht braucht Herz, also Zentrum, Emotion und Gefühl. Er benötigt gleichfalls auch den Kopf, also Verstand und Rationalität. Die Interdependenz all dieser Komponenten macht den Menschen aus, genau das will das Kleesche Bild uns sagen. Also: „Hat Kopf, Hand, Fuß und Herz“ – das ist die Zukunft des Musikunterrichts an unseren Schulen.