Hauptrubrik
Banner Full-Size

Aus für die Neue Musik im Norden?

Untertitel
Niedersachsen will acht Millionen Euro in der freien Kulturpflege streichen
Publikationsdatum
Body

Niedersachsen macht in jüngster Zeit verstärkt von sich reden: Rechtschreibreform, Kündigungsschutz, Blindengeld, Abschaffung der Bezirksregierungen oder das drastische Einsparprogramm, unter anderem mit massiven Kürzungen der freien Kulturpflege. Nicht von ungefähr entsteht bei mehreren dieser Themen der Eindruck, die neue CDU/FDP-Landesregierung übernähme hier stellvertretend für andere Bundesländer eine Vorreiterrolle. Die Erfahrungen dieses Prototyps von Kulturförderung (Vorgehensweise, Hindernisse, Ergebnisse) werden – so die weitverbreitete Befürchtung – dann von den anderen Bundesländern übernommen. Deswegen ist gerade im Bereich der Neuen Musik und allgemein der Gegenwartskünste diese Entwicklung aufmerksam zu beobachten.

Damit nicht der Eindruck billiger Parteienpolemik wie in den TV-Debatten entsteht, sei darauf hingewiesen, dass ein Teil des niedersächsischen Dilemmas das Verdienst Gerhard Schröders ist. Die Sanierung und Aufwertung der Landeshauptstadt Hannover mittels EXPO 2000 bildet einen erheblichen Teil der Schuldenlast des Landes. Inzwischen dürfte allgemein bekannt sein, dass die öffentliche Hand weniger Einnahmen hat, als sie für ihre Aufgaben braucht. Deswegen wird die Ausgabenseite neu definiert. Um die Einnahmenseite bemüht sich scheinbar keiner gern, entgegen dem privaten Verhalten vieler Größen unserer Gesellschaft. Aber weniger Geld beim Staat ist da – Faktum. Eine vertretbare Einnahmequelle, mit ehrlicher Öffentlichkeitsarbeit machbar, kann die Einführung eines „KULTUR-EUROS“ pro Einwohner sein – der Erlös entspräche in Niedersachsen ziemlich exakt dem angestrebten Einsparziel. Niedersachsen teilt sich in vier Regierungsbezirke: Braunschweig (8.099,1 qkm), Hannover (9.046,9 qkm), Lüneburg (15.506,5 qkm) und Weser-Ems (14.965,5 qkm) – laut Internet mit folgenden Bevölkerungszahlen: Weser-Ems 2.455.036, Hannover 2.167.876, Lüneburg 1.692.192 und Braunschweig mit 1.665.368 Einwohnern. Diese Zahlen untermauern den Begriff Flächenland des zweitgrößten Bundeslandes und stellen gewiss auch eine Vorgabe an die Politik dar. Wie in vielen Bundesländern greift aber der Zentralismus um sich – gleich welche Partei, welche ihrer Personen, Macht ausübt. Ob nun unter Albrecht und Schröder Hannover aufgebläht wurde oder unter Gabriel (schon in damaligen Sparzwängen) eine neue Hochschule nach Goslar kommen sollte und sich heute Osnabrück, Wohnort des amtierenden Ministerpräsidenten, glücklich über den einen oder anderen Sonderzuschlag freuen darf – das sind nur einige Auswüchse oder „Leuchttürme“ einer fragwürdigen Landespolitik. Zugegeben: Zentralismus ist keine niedersächsische Macke, aber hier sehr folgenreich etwa im Streit um Arbeitsplätze, Landesmittel, Sitz von Landesämtern, EU-Förderungen. Und in einem Flächenland besonders problematisch: Die Landesmuseen und Staatsorchester sind ob ihrer Verträge fein raus, denn eingespart werden soll dieser horrende Betrag bei den freiwilligen Leistungen des Landes, der freien Kulturpflege.

Welche Lösungsmöglichkeiten ergeben sich, von verantwortungsbewussten Entscheidungsträgern ausgehend? Was meint, Folgen von Entscheidungen voraus zu sehen und zu berücksichtigen? Und was heißt das alles für die Neue Musik, vor allem wenn wir die Niedersachsen zugewiesene Prototyp-Rolle nicht vergessen?

Gemeinhin spielt sich die Neue Musik nicht in den großen Häusern und/oder in den staatlichen Einrichtungen ab (wird sie von diesen nicht eher ferngehalten?), sondern überwiegend in freier Trägerschaft und in kommunaler. Viel Ehrenamt (so vehement von der Politik gefordert) in Vereinen, kleine Einrichtungen – ein paar „Verrückter“ pro Ort – und sehr sensible Strukturen prägen das Landschaftsbild der Neuen Musik. So gibt es in Niedersachsen nur drei Ensembles für Neue Musik und über das Land verstreut einige wenige Veranstalter. Musiker arbeiten bei mehreren „Arbeitgebern“, Komponisten haben kaum Möglichkeiten der Aufführung. So sieht das von der neuen Landesregierung versprochene „Musikland Niedersachsen“ aus, und die Landesförderung der Musik (darin dürfte sich die Neue Musik verschwindend gering wiederfinden) ist in den vergangenen zwölf Jahren (von 1990 bis 2002 SPD-regiert) um 3,5 Prozent auf 4,95 Millionen Euro in 2003 zurückgefahren worden, entgegen den Zuwächsen bei Theater (plus 72%, Soziokultur plus 161% und Museen plus 39%) [Zahlen des Landesmusikrates Niedersachsen]. Das Land gibt 240 Millionen Euro für Kultur aus, davon rund 14 Millionen Euro (etwas über fünf Prozent) für freie Träger, davon sind fünf Millionen Euro durch vertragliche Zusicherung allerdings nicht frei, und von noch verbleibenden neun Millionen sollen acht Millionen Euro eingespart werden.

Wie in einem Ökosystem lösen kleinste Eingriffe kaum übersehbare Folgen aus. Was mit ein, zwei Handgriffen zerschlagen wird, braucht eine, eher zwei Generationen, um Gleichwertiges wieder herzustellen. Der Zwang der Politik an die Veranstalter, Drittmittel zu akquirieren, besteht seit Jahren. Wie aufwendig und kompliziert das im Bereich aktueller Künste ist, der aus vielen Gründen wenig Publikum anspricht, somit für Geldgeber (inzwischen auch für Stiftungen) kaum interessant ist, scheint der Politik nicht klar zu sein. Viele Veranstaltungen staatlicher Häuser ließen sich auf dem freien Markt unterbringen – mit zeitgenössischer Kunst kann das aber nicht gehen. Diese Erkenntnis ist mit der oben angeführten Verantwortungskompetenz gemeint und sollte Grundlage von Entscheidungen sein.

Natürlich sind die Kommunen nie in der Lage, die fehlenden Mittel zu kompensieren. Sie waren in den zurückliegenden Jahren selbst gezwungen, Einsparungen vorzunehmen, oft aber mit Bedacht, vielleicht weil kommunal mehr Sachverstand vorhanden ist, vielleicht aber auch, weil die Verbindungen zu den „Opfern“ der Entscheidungen direkter war. Stiftungen werden diesen Aderlass ebenfalls nicht auffangen können und auch nicht wollen, ist doch der Zug zu eigenen Projekten immer stärker wahrnehmbar, also selbst in diesen Häusern ist der zu verteilende Kuchen durch geringere Zinseinnahmen und die Eigenprojekte bereits kleiner geworden. Dass das Wort „Kunst“ im Nebel des Begriffes „Kultur“ bereits untergegangen ist, erleichtert eben nicht das Verständnis auf der Seite der Geldgeber.

Der Staat darf aus seiner Verantwortung für die Künste nicht entlassen werden. Kunst kann per se keine Massen ansprechen – Ausnahmen bestätigen die Regel –, sie kann somit auf dem freien Markt nicht bestehen. Besonders gibt zu denken, wie gering der Betrag der öffentlichen Hand für Gegenwartskunst ist, im Verhältnis zu der Förderung musealer Kunst (Museen, Orchester, Archive et cetera). Um Missverständnisse zu vermeiden, folgt keine Aufforderung à la Pierre Boulez – „sprengt die Opernhäuser in die Luft“; denn es wäre schade, auf diese Instrumente verzichten zu müssen. Aber ihr Bestand darf nicht Verzicht auf Gegenwartskunst bedeuten. Selbst der rein wirtschaftliche Schaden der Sparentscheidung ist unökonomisch, werden doch mit den öffentlichen Mitteln Aufträge ins Land gegeben, Beschäftigung und Konsum sind die Folge.

Die Argumente für den zu erwartenden Schaden sind aufzulisten, um deutlich zu machen, dass diese Kürzung mehr als kontraproduktiv ist, langfristig sogar teurer. Ein Aufrechterhalten der Gegenwartskünste notfalls durch Neuverschuldung ist sinnvoll und volkswirtschaftlich oder gesellschaftlich kostenneutraler als das Zerschlagen des Wenigen, was es in Niedersachsen gibt. Eine Alternative bestünde in Einsparungen der institutionellen Einrichtungen für eine befristete Zeit, quasi ein Sabbatjahr für staatliche Institutionen (Museen, Theater, Orchester, Archive et cetera). Es lassen sich Modelle entwickeln (Verzicht auf Sonderausstellungen und Anschaffungen, Verschiebung von Bauvorhaben besonders Neubauten, Beschäftigung mit Tarifverträgen et cetera), die Mittel für andere Bereiche produzieren, ohne diese Einrichtungen im Bestand zu gefährden. Wird keine Alternative gefunden, wird beispielsweise in der Neuen Musik ein dramatischer Kahlschlag eintreten, weil diese Einrichtungen immer von der kurzfristigen Projektförderung abhängen. Werden dafür keine Mittel zur Verfügung gestellt, wird es diese Einrichtungen auch nicht mehr geben. Gleiches gilt für viele Kunstvereine, freie Theatergruppen, Alte Musik oder Chöre. Nicht mehr wählen oder anders wählen hilft zeitnah nicht. Gefragt sind konkrete und derart gut begründete Alternativvorschläge, dass sich die Verantwortlichen diesen Argumenten nicht entziehen können.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!