Mit der Rubrik „Musikvermittlung im Konzert“ assoziieren die meisten Leserinnen und Leser Veranstaltungen für ein junges Publikum. Der folgende Artikel berichtet auf anschauliche Weise von einem „Unterricht im Konzertsaal“ für die ganze Familie.
Ein Samstag in der Essener Philharmonie: „Matinee“ steht auf dem Programm, Beethovens sechste Sinfonie, die „Pastorale“, mit dem Neuen Orchester unter Christoph Spering. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Das Stück ist Standardrepertoire und der Name Christoph Spering steht nicht zum ersten Mal auf der Konzertübersicht des Hauses. Das Konzert an diesem Samstag allerdings unterscheidet sich durchaus von den anderen. Zunächst ist da der Zeitpunkt, an einem Samstagvormittag. Und nicht nur das. Christoph Spering und sein Orchester gelten als Spezialisten für Alte Musik. Da liegt der Verdacht nahe, dass der Beethoven an diesem Morgen etwas anders klingen würde. Zu Recht, Beethovens Sinfonie Nr. 6 erklang auf Originalinstrumenten. Eine Umstellung für jeden, der mit dem Namen des Stückes und seines Komponisten á priori voluminösen Orchestersound verbindet. Und damit nicht genug: Der Dirigent erklärte und erläuterte die Sinfonie, bevor sie en suite erklang. Die Zuhörer waren eingeladen, sich mit den Hintergründen des Werks und seinem Aufbau vertraut zu machen, die Charakteristik einzelner Instrumente unterscheiden zu lernen. Die Reaktion des Publikums auf Spering bestätigt die Entscheidung von Intendant Michael Kaufmann für diesen Künstler. Das „Neue Orchester“ ist übrigens bisher das einzige deutsche, das die neun Sinfonien Beethovens in ihrer Gesamtheit auf historischen Instrumenten live zur Aufführung bringt. Darüber sowie zum „Unterricht im Konzertsaal“ und über andere Themen unterhielt sich die nmz mit Christoph Spering.
: Herr Spering, Sie genießen den komfortablen Umstand regelmäßiger Gastspiele in einem Haus wie der Essener Philharmonie. Gleich ein ganzer „Beethoven-Zyklus“ kommt durch Sie zur Aufführung! Enge Bindung ans Haus, künstlerische Kontinuität, Planungssicherheit, breites Repertoire – idealer geht es kaum. Da interessiert zunächst: Was prädestiniert Sie für diese enge Zusammenarbeit? Kam der Vorschlag zu diesem Zyklus von Ihnen oder von Michael Kaufmann?
Christoph Spering: Wir kennen uns aus meiner Kölner Zeit und haben schon damals zusammengearbeitet. Er kannte Aufnahmen, von denen tatsächlich der überwiegende Teil Oratorien, Requiems und Passionen sind. Irgendwann sagte er zu mir: „Sie müssen mal von dem Chorsinfonik-Image weg!“ Ich brachte die Sprache auf den Beethoven-Zyklus – es war der richtige Vorschlag zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Inzwischen läuft der Zyklus jetzt über drei Spielzeiten.
: Der Erfolg war so groß, dass Michael Kaufmann Sie wiederum eingeladen, das Neujahrskonzert 2007 in Essen zu bestreiten...
: Ich finde das bedeutend, was Michael Kaufmann da in Essen wagt: das typische „Neujahrskonzertpublikum“ erwartet ja eigentlich ein großes Orchester mit opulentem Klang. Um den zu erreichen, müssten wir doppelt so viel Streicher und doppelte Bläser auf die Bühne setzen, was natürlich mit Eintrittsgeldern nicht zu finanzieren wäre. Aber die Leute vertrauen auf unseren Zugang zu dieser Musik.
: Ihr „Gesprächskonzert“ mit der sechsten Sinfonie Beethovens war eine Art Musikunterricht. Sie unterziehen sich einer großen zusätzlichen Mühe, die von einem Dirigenten gar nicht erwartet werden kann. Warum?
: Ich sehe mich zunächst eher im Bereich der „Erwachsenenbildung“. Die Schwellenangst vor Konzertbesuchen ist nach wie vor groß. Ich erkenne aber zugleich ein riesiges Bedürfnis, mehr von der Musik zu wissen, um sie bewusster hören zu können. Worum es mir geht ist, zu zeigen, dass man der Musik nicht gerecht wird, wenn man sich nur an die Überschrift hält, unter der sie nun mal steht: „Die Pastorale“ – das klingt ganz nett. Aber die Musik ist nicht nett. Ich denke, es ist auch für den Zuhörer bereichernd, zu erkennen, wie bei Beethoven zum Beispiel die Motive verzahnt sind, wie er instrumentiert, mit Tonarten umgeht. Ich sehe so ein Gesprächskonzert als den Versuch, dem Konzertbesucher einen Einblick in die Werkstatt des Komponisten zu schaffen. Dann versteht man auch als Konzertbesucher, dass Beethoven in seiner sechsten Sinfonie nicht einfach illustriert und mit Tönen das Bild einer Idylle malt. Wir wollen übrigens in derartige Erlebnisse auch Jugendliche einbeziehen. Geplant ist so eine Art „Familienakademie“: Eltern und ihre pubertierenden Kinder im Alter ab elf Jahren kommen gemeinsam ins Konzert, erleben die Musik miteinander und erfahren etwas über das Stück, den Komponisten, das Orchester. Für Kinder und Jugendliche wird ja schon eine ganze Menge getan, aber für die Eltern viel zu wenig.
: Ihr Orchester dürfte im Wesentlichen dem Klangbild entsprechen, wie man es zu Beethovens Zeit gewöhnt war: Naturhörner und -trompeten, Streichinstrumente mit Darmsaiten. Die Aufführungspraxis der letzten 150 Jahre hat jedoch ein anderes Klangbild geschult. Haben Sie das Empfinden, heute gegen diese Entwicklung anspielen zu müssen?
: Ich habe den Eindruck, dass viele das gar nicht richtig merken. Die können nur sagen, das war irgendwie nicht so richtig voll im Klang, und die Pauke klang wie eine Hutschachtel…
Wir spielen nicht nur Beethovens Neunte mit dem Instrumentarium aus jener Zeit, also mit Naturinstrumenten. Wir spielen auch Schumann und Brahms, die übrigens neben den gängigen Ventilhörnern auch noch Naturhörner benutzten, und wir spielen Mendelssohn. In dessen Sinfonie Nr. 5, der „Reformationssinfonie“, gibt es eine Stelle, die wir nicht mit den normalen Naturtrompeten spielen können. Wie hat das Mendelssohn gemacht, wo es doch die Ventiltrompete noch nicht gab? Nun, er hatte seinerzeit so genannte „Stopftrompeten“ zur Verfügung, spezielle Instrumente, die es heute nicht mehr gibt und die bislang noch nicht wieder nachgebaut worden sind. Das hängt sicher damit zusammen, dass es wenig komponierte Stellen für diese speziellen Trompeten gab, so dass sich ein Nachbau nicht wirklich lohnt. Deswegen benutzen auch unsere Trompeter an diesen Stellen eine Ventiltrompete. Ich möchte erreichen, dass die Leute mit ihren auf „laut“ getrimmten Ohren auch diese Töne wieder wahrnehmen, dass sie sensibel werden für den Klang der Originalinstrumente und auch für den Ablauf von Musik.
: Eigenen Auffassungen geht auch die Auseinandersetzung mit denen anderer voraus. Bei wem sind Sie eigentlich „in die Schule“ gegangen?
: Bei so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Reinhard Goebel und Gerd Albrecht, der eine mehr ein Kammermusiker, der andere ein Spezialist für die große sinfonische Form. Ich gehöre zu der Generation von Dirigenten, die ihre Erkenntnisse der Aufführungspraxis Alter Musik auch modernen Orchestern vermitteln wollen. Ich habe in der Kölner Philharmonie bei allen großen Dirigenten in der Probe gesessen. Ich bin Nikolaus Harnoncourt nachgereist, John Elliott Gardiner oder Roger Norrington, von dem ich übrigens sehr viel halte. Ich glaube, man muss sich wirklich sehr viel umschauen, sehr viel zuhören, zumal der Umgang mit Orchestern in erster Linie ein psychologisches Phänomen ist.
Ich kenne Kollegen, die nach vierzig Jahren Berufspraxis genau wie ich noch immer, trotz allen Studierens, vor jeder Probe mit einem neuen Orchester unendlich nervös sind. Die ersten Minuten sind bei so einer Begegnung entscheidend