Um gleich mit der Tür der Bewertung ins Haus zu fallen: Der Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ ist nicht nur respektabel, sondern eine beachtliche Leistung sui generis. Wann hat es in Deutschland das schon gegeben, dass sich der Bund Gedanken über die Lage der Kultur machte, wo es doch die Länder sind, die sie sich zu eigen machen. Erst dieser Bundes-Blick hilft, Schwachstellen aufzudecken – und das nicht nur mit Zahlenmaterial, sondern auch mit Visionen. Denn ohne das eine geht auch das andere nicht! Zahlen können auf Miseren hinweisen, nicht aber die Wege aus den Miseren entwickeln. Es bedarf eben doch noch immer der Utopie, dem Gedachten, aber noch nicht Realisierten.
Und: Man kann sich kaum erinnern, dass dieser Bundestag je so einhellig – über die Parteiengrenzen hinweg – unter der Leitung von Gitta Connemann zu Beschlüssen und Empfehlungen gekommen ist. Wenn man weiß, wie sonst so etwas abläuft, dann ist es geradezu eine diplomatische Meisterleistung, unabhängig davon, dass sich der Bund natürlich eher kritisch-perspektivisch äußern kann als die Länderparlamente, die natürlich bei jeder intelligenten Überlegung zugleich nach den Ausgaben fragen.
Was diese Kommission ganz sicher nicht gewollt hat, ist, dass dieses voluminöse Werk jetzt in der Schublade verschwindet. Sondern natürlich beginnt, wie Gitta Connemann schreibt, jetzt erst die Arbeit. Und diese muss genauso von den politisch Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen geleistet werden wie von allen Bürgern, die sich kulturpolitisch verantwortlich fühlen. Also zum Beispiel den Verbänden, den einzelnen Gruppierungen und Arbeitsgemeinschaften, aber auch den „Konsumenten“ von Kultur (ein immer wieder gebrauchter Begriff, der aber danach fragen muss, ob Kultur wirklich konsumiert werden kann).
Für die Musik engagierte sich der Deutsche Musikrat im Rahmen seiner jüngsten Mitgliederversammlung, indem er in verschiedenen Arbeitsgruppen überlegte, was denn an Rückschlüssen aus dem Bericht für die eigene Arbeit zu ziehen sei. Denn da soll man sich nicht täuschen: Die große Zahl der Mitgliedsverbände, die in der Struktur eines Dachverbandes verankert sind, stellt ja eben nicht nur eine quantitative Macht dar, sondern bedeutet auch, dass Argumentationen viel weiter gedacht werden müssen als bislang.
Ein wichtiges Feld, ohne Frage, war und ist für den Bericht weiterhin die musikalische Bildung. Denn ohne sie dürfte es zukünftig kaum noch die bisherige Breite des Musiklebens geben. Die Sorge, die viele Verbände besonders des musikalischen Laienbereichs zu Recht umtreibt: Wie kann es gelingen, zukünftig den Nachwuchs überhaupt zu interessieren? Man sollte diese Sorge nicht klein reden, sondern eher überlegen, worin die Ursachen liegen, dass man junge Menschen nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt erreicht.
Ein, wenn auch nicht der ausschließliche Grund, besteht darin, dass wir mit unseren Bildungsanstrengungen nicht genug getan haben, sondern uns selbstzufrieden zurück lehnten. So „irgendwie“ klappte es ja bislang immer noch. Natürlich war die Versorgung mit Lehrerinnen und Lehrern nicht immer leicht, besonders nicht in den Grundschulen. Aber: Wer wollte, der konnte doch genauso an der Musikschule musikalische Förderung bekommen. Und wenn dort nicht, dann wenigstens in einem Musikverein. Und im Übrigen: Bitte nicht dramatisieren! Es gibt das Städtische Gymnasium mit seinen exzellenten Weihnachtskonzerten, es gibt „Jugend musiziert“. Diese argumentativen Tranquilizer sorgten dafür, dass die radikale Diagnose ausblieb – lange Zeit auch im Deutschen Musikrat. Und an eine Therapie ist nicht zu denken.
Der Enquete-Bericht aber spricht hier eine andere Sprache! Mit seinen Forderungen zur kulturellen Bildung legt er den Finger auf gesellschaftliche Wunden. Bestimmte Milieus werden – gerade auch musikpädagogisch! – gar nicht mehr erreicht, die vorschulische kulturelle Bildung wird total vernachlässigt. Auch die Erwachsenenbildung insgesamt, besonders aber die Bildung im dritten. Lebensabschnitt verfügt bei weitem nicht über die ausreichende gesellschaftliche Aufmerksamkeit, konstatiert der Bericht deutlich. Die Ignoranz, mit der ein zentrales Thema schlicht ausgeblendet wird, scheint schon ihresgleichen zu suchen.
Wenn man sich dennoch aus heutiger Sicht in dem Bericht einiges anders gewünscht hätte, dann deswegen, weil es inzwischen einen weitreichenden Diskurs gegeben hat, der nicht zuletzt den Musikrat erreicht hat und von ihm dringlichst weiterentwickelt werden muss. Dies beginnt bei ganz Grundsätzlichem: So ist im Text noch die Mär zu finden, Musik mache intelligent, die so genannte Transfer-These, die sich zwar nicht beweisen lässt, aber immer neu so manchen Hobby-Kulturpolitiker motiviert, so etwas zu behaupten – im naiven Glauben, damit könne man einen Finanzminister beeindrucken. Als ob man der Musik nicht genug zutrauen kann in ihrer personalen Verankerung, die sicher nicht zu hinterfragen ist. Musik wird geliebt – oder nicht! Nur kann man diese Liebe nicht erzwingen, weder durch den schulischen Unterricht noch durch das Argument, durch das Musizieren würde der Mensch klüger.
Überraschend auch, dass die Frage der Vielfalt der Kulturen (immerhin ist Deutschland ein Einwandererland) kaum ausreichend gewürdigt wird. Die etwa 9 Prozent Ausländer, davon etwa die 27 Prozent türkisch-stämmigen Mitbürger, die bei uns leben und durchaus zu einer Bereicherung unserer eigenen Kulturwahrnehmung beitragen könnten, werden nicht wirklich wahrgenommen. Gewiss – es gibt ein eigenes Kapitel zum Thema „Interkulturelle Bildung“. Doch zum Thema Musik wird in diesem Zusammenhang nichts gesagt. Stattdessen finden sich Formulierungen, die jedem Denkenden den Atem verschlagen müssten: „Interkulturelle Kompetenz bedeutet für Unternehmen einen handfesten Wettbewerbsvorteil …“ Als ob dies das Ziel von kultureller Bildung sein könnte oder sein dürfte. Dass man diese Frage nicht als Querschnittaufgabe der Bildungspolitik versteht, sondern stattdessen als ein additives Sonderkapitel konzipierte, ist weniger ein redaktioneller Lapsus als vielmehr ein großes gesellschaftliches Missverständnis. Hier ist der Deutsche Musikrat mit seinen Überlegungen im Rahmen des 2. Berliner Appells schon weiter. Unser Kulturbegriff darf nicht Eigenes und Fremdes als Gegensatz definieren, sondern muss stattdessen Beides, Eigenes wie Fremdes als Zusammengehörendes verstehen.
Ebenso scheint das Defizit an musikalischen Angeboten in den Kindertagesstätten nicht einmal annähernd „gewürdigt“. Dass es sich hier um einen Notstand erster Güte handelt, lässt das Papier nicht erkennen. Der Verweis auf die Musikschulen hilft da auch nicht weiter, denn es ist nur einem ganz geringen Teil der Kinder vergönnt, in der musikalischen Früherziehung gefördert zu werden. Und schlimmer noch: Im Enquete-Text müssen die Musikschulen gar noch als Beleg dafür herhalten, dass es ganz gut liefe in der Zusammenarbeit der Kultur- und Bildungseinrichtungen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, besonders auf dem Lande, denn dort leben die meisten Verlierer einer gesicherten kulturellen und ganz besonders der breiten musikalischen Bildung.
Darum ist es nur zu begrüßen, wenn sich inzwischen auch Gitta Connemann für die kulturelle Bildung in ländlichen Räumen engagiert – unabhängig vom Bericht der Kommission, aber durchaus in deren Sinne. Auch hier wünschte man sich parteiübergreifende Initiativen, wie sie sich in der Enquete ja widergespiegelt hat. Dies ist ein Beispiel dafür, wie es auch für den Deutschen Musikrat und seine Bildungspolitik weitergehen muss. Die Impulse, die bereits die Königsteiner Tagung zur Musik in der Ganztagsschule gezeigt hat, sind für andere Bereiche übertragbar. Wo Verbände bereit sind, sich zu engagieren und zu vernetzen, kann eine neue Kraft für die Veränderung zustande kommen.
Im Bereich der musikalischen Bildung kann uns, das zeigen auch die unzähligen Forderungen und Empfehlungen der Kommission, nur noch ein Masterplan helfen, der vom Ganzen der Kultur und der Kulturpolitik her denkt. Das Werkeln an einzelnen Problemen in den 16 Bundesländern und im Erfolg abhängig von einzelnen, meist hoffnungslos überlasteten Ministerialbeamten, kann keine Perspektive für das Entwickeln einer kulturellen Identität in Deutschland entstehen lassen. Diese Kulturalität will mit Phantasie strukturell gestützt wie geschützt sein. Der Enquete-Bericht hat einen guten und hilfreichen Anfang gemacht; die Arbeit aber beginnt jetzt, weil bisherige Strukturen nicht mehr greifen. Visionen sind vonnöten – und die gehören in diesen Masterplan der musikalischen Bildung.
Und inhaltlich? Die drei bereits zitierten Themenbereiche müssten klein gearbeitet und nicht oberflächlich erwähnt werden: Die Einbettung der musikalischen Migrantenkulturen in unser Bildungssystem, die Verbesserung der ländlichen Musikkultur mit allen Chancen für die Bildungsarbeit und die Selbstverständlichkeit einer eigenen Bildungskultur für Menschen im dritten und vierten Lebensabschnitt. Nach den Kongressen des Deutschen Musikrates in Berlin (zur Interkulturalität) und Wiesbaden (50+) ist es jetzt dringend nötig, das Angedachte in eine konkrete Seinsform zu überführen.
Dieses Kleinarbeiten verlangt einen langen Atem; doch ohne ihn werden wir es nicht schaffen. Aber es ist wie in der Politik überhaupt: Die Atemlosen machen zwar manchmal Wind, aber sie bewegen nichts. Vielleicht gibt es ja noch andere Wege – geleitet von Visionen.