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GMD und Vorsitzender des Landesmusikrats Bremen: Marc Niemann. Foto: Kaupo Kikkas
GMD und Vorsitzender des Landesmusikrats Bremen: Marc Niemann. Foto: Kaupo Kikkas
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Dirigent mit einem Händchen für Kulturpolitik

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Marc Niemann, Vorsitzender des Landesmusikrats Bremen, im Gespräch mit der neuen musikzeitung
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Seit der Saison 2014/15 ist Marc Niemann Generalmusikdirektor der Stadt Bremerhaven und Dirigent des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven. Darüber hinaus engagiert er sich kulturpolitisch und ist seit knapp einem Jahr Vorsitzender des Landesmusikrates Bremen. Sarah Lindenmayer hat für die nmz mit ihm über sein Engagement in der Kulturpolitik und im künstlerischen Bereich gesprochen.

neue musikzeitung: Sie setzen sich intensiv mit zeitgenössischer Musik auseinander und haben am Theater Bremerhaven dahingehend viele Impulse gesetzt. Gleichzeitig nehmen Sie mit Ihrem Orchester alle Beethoven-Sinfonien auf mit Fokus auf historisch informierte Aufführungspraxis. Wo sind hier die Berührungspunkte?

Marc Niemann: Ich bin der Überzeugung, dass wir uns selbstverständlich mit zeitgenössischer Musik auseinandersetzen müssen. Jeder Komponist, jede Komponistin hat heute ihre individuelle Klangsprache im Unterschied zur Musik anderer Epochen, so dass man das Material also immer wieder hinterfragen muss auf das, was hinter den Noten steht – das eigentlich Interessante in jeder Musik. Wenn man diesen Weg geht, leitet es an, auch die Musik anderer Epochen auf diese Weise zu befragen und nicht beispielsweise eine Schumann Sinfonie so zu interpretieren, wie man sie schon zehnmal gehört hat. Das bringt mich zum Thema der historisch informierten Aufführungspraxis. Das ist bei uns kein Standbein, weil wir hier nicht die Expertise haben wie Spezialensembles, trotzdem finde ich, dass sich unsere Orchester mit diesem Thema befassen müssen. Wie klingt eine Beethoven-Sinfonie, wenn die Streicher ohne Vibrato spielen? Wie verändert sich dadurch die Tonformung? Nicht alle Kollegen haben Erfahrungen mit dieser Spielweise in ihrer Ausbildung sammeln können. In welchen Räumen hat Beethoven seine Sinfonien aufgeführt, mit welchen Besetzungen? 

nmz: War es leicht, mehr Musik von heute nach Bremerhaven zu bringen, oder gab es Berührungsängste?

Niemann: Es gibt immer Berührungs­ängste mit zeitgenössischer Musik. Natürlich geht es um die richtige  Vermittlung und den Kontext. Man darf nicht weltfremd sein und ein zweistündiges Sinfoniekonzert nur mit zeitgenössischer Musik planen. Man muss sich fragen: Ist das ein Spezialpublikum, das besonders viel Neugier mitbringt? Oder ist das „normales“ Publikum, dem man sagen muss „Okay Leute, was kann passieren – lasst euch mal drauf ein“. Die Werkeinführungen mache ich immer selbst und wenn wir ein Stück von einem „composer in residence“ aufführen, ist der oder die immer vor Ort und erzählt etwas über die Tonsprache der Komposition und deren Bedeutung. Damit kann man den Konzertbesuchern einen Schlüssel in die Hand geben, eine Möglichkeit, wie sie in neue Musik eindringen können. Wir hatten einmal eine große Uraufführung eines Stückes des amerikanischen Komponisten James Reynolds über Edgar Allan Poe, das fast 40 Minuten dauerte. Natürlich war ich besorgt, dass die Zuhörer von der Dimension des Stückes überfordert sein könnten, wurde dann aber überrascht, wie das Publikum regelrecht aufgesogen wurde und begeistert war. Das sind dann Erfolge, die zeigen: Genau das ist unser Kulturauftrag und auch ein Kern unseres Musikbetriebes!

nmz: Was ist Ihnen bei der Zusammenarbeit mit einem „composer in residence“ wichtig?

Niemann: Wichtig ist mir, dass diese Menschen überhaupt präsent werden. Was weiß der normale Konzertbesucher über Komponist*innen? Vorurteile wie, „das sind schräge Menschen, die Musik komponieren, die man nicht anhören kann und die in unserem normalen Leben keinen Raum hat“, höre ich immer wieder. Aber das ist die Tonsprache unserer Zeit! Warum nutzen zeitgenössische Komponist*innen eine andere Tonsprache als Mozart? Offensichtlich hat das etwas mit uns und mit der Welt, in der wir leben zu tun. Zeitgenössische Musik ist etwas, das in unserem normalen Lebensalltag einen Platz haben muss, genauso wie das in  anderen Künsten mit Selbstverständlichkeit auch ist. Genau deshalb lade ich gerne Komponist*innen auch mal ein, Schulen zu besuchen.

nmz: Sie haben Klavier und Dirigieren studiert. Woher kommen der Wunsch und das Interesse, sich auch kulturpolitisch so stark zu engagieren?

Niemann: Ich habe mich schon als Jugendlicher nicht nur für Musik interessiert, sondern auch für gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse. Ich komme zwar aus einem Elternhaus, das in gewisser Weise musikalisch ist – meine Eltern hatten ein Musikgeschäft – aber nicht aus dem klassischen, höheren Bürgertum, wo klar ist, dass die Tochter Flöte oder Geige spielt und der Vater das Konzert-Abo hat. Durch den Weg, den ich zurückgelegt habe, weiß ich, wie sich heute manche 15-Jährige in Konzerten fühlen, für die eine Beethoven-Sinfonie einfach ein 40-minütiger, langweiliger Berg von Tönen ist. Keiner hat ihnen den Weg zum Verständnis des Werkes gebaut.

Was früher an tieferem Wissen über Musik selbstverständlich war, kann heute nicht mehr vorausgesetzt werden. Auch der 75-jährigen Abonnentin ohne professionelle musikalische Bildung zu erklären, wie zum Beispiel Dvorák Material in der Durchführung verarbeitet, oder was das überhaupt ist, ist mir wichtig.

Das andere Standbein meiner Haltung ist die Überzeugung, dass wir uns als Kulturbetrieb auch im politischen Kontext behaupten müssen. Ich muss in einer Stadtverordnetenversammlung erklären können, warum es wichtig ist, dass es Theater gibt. „Warum kostet das Orchester drei Millionen Euro im Jahr? Das alternative Kulturzentrum dagegen nur Hunderttausend. Es besucht doch nur eine Minderheit der Bevölkerung klassische Konzerte.“ Da muss man kulturpolitisch argumentieren können. Man muss um moderne Kulturpolitik wissen und immer wieder herausheben, wie unendlich wichtig alle Art von Kultur für die Gesellschaft ist. Für mich bestimmt genau das das Bild des Generalmusikdirektors: Das ist nicht nur der Musiker, der vor dem Orchester steht, sondern eine Person, die sich für die gesamte Musikkultur einer Stadt verantwortlich fühlt und sich kulturpolitisch einmischt, damit es die auch in 20 Jahren noch gibt.

nmz: Inwiefern verfolgen Sie diese Ziele auch als Vorsitzender des Landesmusikrates Bremen?

Niemann: Über den Landesmusikrat ist dieses Engagement noch viel weiter gefasst, weil wir uns natürlich für ganz viele Szenen und Institutionen einsetzen und politisch noch auf anderen Ebenen agieren können. Ein großes Thema ist zum Beispiel die zunehmende Diversität der Musikkultur: Die freie Szene steht häufig im Fokus der Politik, trotzdem sind die Künstler in diesem Bereich oft wahnsinnig schlecht bezahlt und die ganze Szene ist unterfinanziert. Daneben stehen große Kulturbetriebe, die einen höheren Anteil der Kulturhaushalte beanspruchen und deshalb unter Rechtfertigungsdruck stehen. „Warum bekommt das Jazz-Festival so wenig und das Opernhaus so viel?“ Was brauchen wir heute an modernen Kulturstätten und welche Rahmenbedingungen braucht es? Wie muss das in der Haushaltsausgestaltung berücksichtigt werden? Das sind alles Themen, mit denen wir uns als Landesmusikrat beschäftigen.

nmz: Wo liegen darüber hinaus die Schwerpunkte für Sie bei der Arbeit im Landesmusikrat?

Niemann: Ein Schwerpunkt, den ich setzen möchte ist die Steigerung unserer Relevanz. Die Landesmusikräte werden in erster Linie noch immer  als Vertreter und Lobbyisten der Klassikszene wahrgenommen. Das muss sich ändern, sonst werden wir als rückwärtsgewandter Verband wahrgenommen, der den Kontakt zur Gegenwart verloren hat und nicht mehr für die gesamte Musikszene steht. Ich glaube, das ist auch ein Fehler von Seiten der Landesmusikräte gewesen; Es sind neue Szenen entstanden, die  einfach nicht abgebildet worden sind. Es ist mir ein großes Anliegen, dass sich die Popszene in Bremen und Bremerhaven genauso von uns vertreten lässt, wie die freien klassischen Ensembles. Denn wir können das mit unseren politischen Kontakten sehr gut, wir müssen an dieser Stelle noch mehr um Vertrauen werben.

nmz: Sehen Sie hier schon Erfolge?

Niemann: Ja, wir sehen sehr viele Erfolge. Wir kommunizieren viel mehr in die Öffentlichkeit und mit unseren Partnern. Wir haben mit der Kulturbehörde einen guten und konstruktiven Kontakt. Letztendlich haben wir die gleiche Zielsetzung: Die Entwicklung des kulturellen. Durch diesen Austausch haben wir in letzter Zeit sehr viel erreicht und dadurch auch unsere politische Relevanz gesteigert.

nmz: Wie kommen ihr künstlerisches und ihr kulturpolitisches Schaffen zusammen?

Niemann: Ich bin ein Workaholic und kann schlecht Nein sagen. Ich habe immer tausend Projekte: Kooperationen, CD-Aufnahmen, Festivals et cetera,  an denen unheimlich viel Arbeit hängt. Da gerate ich auch immer wieder an meine Grenzen, aber andererseits brauche ich das auch. Neue Ideen haben und Kooperationspartner suchen, um diese dann zu realisieren, das macht mir Spaß.

nmz: Verschafft Ihnen das politische Engagement Vorteile?

Niemann: Ja, es ist wie überall, Netzwerken ist das A und O. Wir haben es jetzt zum Beispiel  geschafft, im Bremerhavener Orchester eine Stelle für Musikvermittlung einzurichten. Teilweise gab es dafür private Gelder und teilweise Mittel vom Land. Das passiert natürlich nicht einfach so, sondern ist Folge jahrelanger Bemühungen, da kommt man um das berühmte „Klinken putzen“ nicht herum.

nmz: Stehen Sie mit ihrem Orchester in Konkurrenz zu Bremen?

Niemann: Vielleicht ein bisschen, man vergleicht sich ja immer mit dem Nachbarn. In Bremen wird teilweise natürlich das High-End-Niveau angeboten, wie beim Bremer Musikfest, mit seinen Alte Musik Ensembles von Weltklasse. So etwas bieten wir hier nicht, insofern haben wir eine etwas andere Angebotsstruktur. Ich empfinde das aber nicht als Konkurrenz. Mit den Bremer Philharmonikern haben wir eine richtige Freundschaft und haben auch unsere „Claims abgesteckt“: Jeder bleibt in seinem Bereich, damit gar nicht erst Konkurrenzsituationen entstehen. Wir haben in Bremerhaven eher die Verbindung ins niedersächsische Umland als nach Bremen. Insgesamt sind wir sehr gut abgesichert, weil wir die politische Rückendeckung und ein sehr treues Publikum in der Region haben.

nmz: Spielt das Orchester viel im niedersächsischen Umland?

Niemann: Damit habe ich angefangen, weil ich glaube, dass Kulturversorgung der ländlichen Räume – und im zweiten Schritt vielleicht eine regionale Netzwerkbildung – für ein Orches­ter eine Zukunftssicherung bedeuten kann. Zudem gibt es in der Bundespolitik viele Förderungen für Kultur in nicht-urbanen Räumen, die zunehmend auch für uns interessant sind.

nmz: Stehen Ihnen Haushaltskürzungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bevor?

Niemann: In diesem Haushalt sind wir davor sicher, aber ich glaube, dass in Deutschland allen Kulturträgern Kürzungen drohen. Von Landesseite aus ist bereits klar kommuniziert worden, dass im Doppelhaushalt 24/25 mit Schwierigkeiten bei der Kulturfinanzierung zu rechnen ist. Die angespannten Haushalte müssen saniert werden, was auch Auswirkungen auf die Kulturhaushalte haben wird.

nmz: Im Sommer 2022 sind Sie beim Festival „Cantiere Internazionale d’Arte“ in Montepulciano künstlerischer Leiter. Was planen Sie?

Niemann:  Geplant sind zahlreiche Konzertformate wie Kammermusik an besonderen Orten, Orchesterkonzerte in Kirchen oder open air sowie zwei Musiktheaterproduktionen. Es wird ein großes Event zum zehnten Todestag von Hans Werner Henze geben, dem Initiator des Festivals.  ¢

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