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Dirigent Nagano kritisiert «Borniertheit des Pisa-Diktats»

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New York - Der Dirigent Kent Nagano (62) hat die Bildungspolitik und ein «Pisa-Diktat» in vielen Ländern kritisiert und als völlig verfehlt bezeichnet. «Das Bildungssystem eines Landes gilt dann als vorbildlich, wenn das Land bei Pisa gut abschneidet. Aber weder Sprachen noch die Künste spielen hier eine Rolle», sagte Nagano in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur in New York.

 
«Philosophie, Literatur, Malerei, die klassische Musik - nach Pisa für ein leistungsstarkes Bildungssystem alles unbedeutend. Was für ein bornierter Bildungsbegriff liegt dem zugrunde?» Die Künste würden in den Schulen immer weiter an den Rand gedrängt und damit auch die klassische Musik.
 
 
«Wir verlieren unsere Tradition»: Kent Nagano sorgt sich um Klassik - Interview: Chris Melzer
 
Frage: Sie schreiben, dass klassische Musik an Bedeutung verliert. Was macht Sie so pessimistisch?
 
Antwort: Pessimistisch ist nicht ganz das richtige Wort. Vielmehr bin ich tief besorgt. Im Alltag und vor allem bei jungen Menschen hat die klassische Musik kaum noch Bedeutung. Die Selbstverständlichkeit ihrer Präsenz ist verloren gegangen. Diese großartige Kunst droht zu einer Liebhaberei einiger Schichten zu werden. Aber dafür ist sie nicht gedacht. Sie ist für jeden komponiert. Hausmusik - wo findet die noch statt?
 
Frage: Aber es finden doch jeden Tag in jeder größeren Stadt klassische Konzerte statt.
 
Antwort: Der Anteil der Bevölkerung, der mehr als einmal im Jahr ein Konzert besucht, ist verschwindend. Das Publikum altert. In Amerika finden Konferenzen dazu statt, wie dem Phänomen begegnet werden kann. Orchester werden geschlossen oder fusioniert - im Musikwunderland Deutschland mit seiner (noch) großartigen Orchesterlandschaft findet das schleichend statt, in den USA geräuschvoller. Die Übertragung klassischer Musik in Funk und Fernsehen ist eine Seltenheit geworden. Klassiksender verschwinden oder werden ins Digitale verschoben.
 
Frage: Ist das vielleicht nur ein Trend? Vielleicht wächst ja die nächste Generation von Klassikliebhabern gerade heran.
 
Antwort: Noch viel bedrückender ist für mich, dass die klassische Musik in der Schule immer weiter zurückgedrängt wird. Alle anderen Fächer scheinen mehr Bedeutung zu haben. Diese Entwicklung hat in den Vereinigten Staaten ihren Anfang genommen. Inzwischen gilt dies gleichermaßen diesseits und jenseits des Atlantiks. Wenn vor allem junge Menschen weder durch ihr Elternhaus noch in der Schule die Möglichkeit bekommen, Zugang zur klassischen Musik zu finden, dann werden sie diese auch nicht vermissen. Sie wissen gar nicht, dass es sie gibt. Ist es fair, wenn wir ihnen diese Möglichkeit großartiger, vielleicht sogar existenzieller Erfahrungen vorenthalten?
 
Frage: Wenn die Jugend Beethoven und Mahler nicht mehr hören will, ist das dann nicht einfach der Lauf der Dinge? Muss sich nicht auch die Klassik einem Wettbewerb unterwerfen?
 
Antwort: Kulturelle Gewohnheiten und Vorlieben verändern sich. Natürlich. Doch die Bedrohung der klassischen Musik ist das Ergebnis eines gravierenden Wertewandels. Wir leben im Zeitalter ökonomischer Obsession. Alles unterliegt dem Kosten-Nutzen-Kalkül, dem Abwägen von Einsatz und Ertrag, dem erwarteten Return, ohne den ein Investment nicht lohnt. Aber die Rendite eines Konzertbesuchs lässt sich genauso wenig berechnen, wie wenn Kinder ein Instrument lernen - auch wenn wir alle wissen, wie wichtig die Künste für die Menschen sind.
 
Frage: War das nicht immer so, dass Kunst sich auch einem Markt unterwerfen muss? Auch die Künstler müssen bezahlt werden.
 
Antwort: Ich will ein Beispiel für den Wertewandel bringen, das die jungen Menschen so stark betrifft. Das ist das nahezu weltweite Pisa-Diktat in der Bildungspolitik. Das Bildungssystem eines Landes gilt dann als vorbildlich, wenn das Land bei Pisa gut abschneidet. Aber weder Sprachen noch die Künste spielen hier eine Rolle: Philosophie, Literatur, Malerei, die klassische Musik - nach Pisa für ein leistungsstarkes Bildungssystem alles unbedeutend. Was für ein bornierter Bildungsbegriff liegt dem zugrunde? In den Schulen drängt dieses neue Bildungsverständnis die Künste und mit ihnen die klassische Musik dramatisch zurück. Das macht mir große Sorgen.
 
Frage: Was können wir verlieren, wenn wir uns mehr auf die Naturwissenschaften konzentrieren? Sie sind es immerhin, die unsere Wirtschaft antreiben und damit unseren Wohlstand.
 
Antwort: Wir verlieren dadurch unglaublich viel: Inspiration, Trost, Gemeinsinn, einen Teil unserer großen abendländischen Tradition. Wir verlieren die Möglichkeit, Dinge zu entdecken und zu erfahren, die größer sind als wir selbst. Das ist der Sinn ästhetischer Erfahrungen, ohne die wir alle in unserer Vorstellungskraft sehr viel ärmer würden. Wissen Sie, wie wichtig ein gutes, ja trainiertes Vorstellungsvermögen für die Lösung wirklich schwieriger Fragen ist? 
 
Frage: Wen sehen Sie in der Verantwortung?
 
Antwort: Verantwortlich dafür, dass klassische Musik nicht weiter verdrängt wird, sind wir alle - jeder an seiner Stelle. Als Dirigent darf und will ich mich nicht darauf verlassen, dass meine Konzerte ausverkauft sind. Wenn ich Menschen für Musik begeistern will, weil ich felsenfest davon überzeugt bin, dass sie ihr Leben verändern kann, dann muss ich die Musik zu ihnen bringen: in ungewöhnlichen Konzerten an zum Teil ungewöhnlichen Orten mit ungewöhnlichen, immer neuen Ideen, die ihnen zeigen, dass diese große Musik nicht nur noch immer aktuell ist, sondern heute vielleicht bedeutender als je zuvor.
 
Frage: Also liegt es an den Künstlern selbst?
 
Antwort: Wir Künstler brauchen auch die Unterstützung politischer Entscheidungsträger, weil ernste Kunst, für die man sich anstrengen muss, eine Gesellschaft immer etwas kostet. Sie ist, in rein monetärer Hinsicht, nicht unmittelbar gewinnbringend. Wenn Politiker nur motiviert und kreativ genug wären, um unser Musikerziehungssystem ein Stück weit wiederzubeleben und die klassische Musik in ihrer Bedeutung für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen wieder etwas nach vorne zu rücken, wäre unglaublich viel gewonnen.
 
Frage: Sie wuchsen ohne Fernsehen und Kino auf. Glauben Sie, das ist der Grund für Ihre Liebe zur so komplexen klassischen Musik?
 
Antwort: Es ist immer verlockend, die neuen Medien dafür verantwortlich zu machen, dass klassische Musik an Bedeutung verliert. Wenn man sich im Internet und in den Social Media so anstrengungslos die Zeit vertreiben kann, warum sollte man sich da noch bemühen, ein Instrument zu lernen? Dabei wird allerdings oft vergessen, dass gerade die neuen Medien und Internetdienste klassische Musik für alle zugänglich machen. Fast jedes Stück ist heute über YouTube oder die vielen Musikportale für alle verfügbar. 
 
Frage: Aber das ist doch nichts im Vergleich zu einem Konzert, erst recht nicht zum eigenen Spiel.
 
Antwort: Aber das ermöglicht immerhin einen Zugang zu ihr. Nur muss man dafür wissen, dass es diese Musik überhaupt gibt und dass es sich lohnt, in diese faszinierende Welt einzutauchen und über sie etwas zu lernen. Hier kommt meine Kindheit ins Spiel, die ich in meinem Buch so genau beschreibe. Sie ist der Nukleus für alles, für meine Liebe zur Musik, für meine Entscheidung, irgendwann alles auf eine Karte, auf die Musik zu setzen.
 
Klassische Musik war Teil des Alltags aller Kinder des Fischerdorfes an der Westküste der Vereinigten Staaten, in dem ich aufgewachsen bin. Sie war es mit einer großen Selbstverständlichkeit, sie gehörte dazu wie das Lesen und Schreiben. Sie wurde in der Schule unterrichtet. Und vor allem: Sie brauchte kein Bildungsbürgertum, sondern nur einen guten Lehrer und eine stabile Infrastruktur, so dass fast alle Kinder irgendetwas mit ihr zu tun hatten. Es waren eher diese Komponenten als die fehlenden Ablenkungsmöglichkeiten, die bei mir am Ende den Ausschlag gaben.
 
Frage: Also spielen die neuen Medien keine Rolle?
 
Antwort: Die Musikhochschulen in aller Welt sind voll von jungen Talenten, die inzwischen auf einem nie dagewesenen Niveau musizieren. Sie glauben doch nicht, dass all diese jungen Künstler ohne Smartphone und Internet und ohne Pop-Musik aufgewachsen sind! Aber sie alle hatten das Privileg, dass ihnen irgendwann irgendwer die Tür zur klassischen Musik geöffnet hat. Zugang zur Musik sollte kein Privileg sein, sondern wieder zur Selbstverständlichkeit werden.
 
Frage: Denken Sie an das Jahr, sagen wir, 2050. Wird die Klassik dann noch eine Bedeutung haben?
 
Antwort: Ehrlich gesagt reicht meine Vorstellungskraft nicht so weit in die Zukunft. Ich glaube, niemand kann hier präzise Vorhersagen treffen. Aber ich hoffe natürlich, dass die klassische Musik dann längst wieder eine größere Bedeutung hat - vielleicht so wie in der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Mein Traum ist es, dass dann jeder Mensch die Möglichkeit hat, Zugang zur klassischen Musik zu finden. Ich werde alles daran setzen, dass wir da ein bisschen weiterkommen. Nicht zuletzt deshalb habe ich dieses Buch geschrieben: um meine Sorgen, aber vor allem auch meinen Traum mit anderen zu teilen.
 
ZUR PERSON: Kent Nagano wurde 1951 als Enkel von Einwanderern aus Japan in Kalifornien geboren. Er wuchs ohne Fernsehen und Kino auf, seine Eltern führten ihn aber früh an klassische Musik heran. Er lernte bei Seiji Ozawa und wurde zu einem der bekanntesten Dirigenten der Welt. Seit 2000 ist er auch in Deutschland engagiert: Bis 2006 beim Deutschen Symphonie-Orchester in Berlin, dann als Generalmusikdirektor der Bayerische Staatsoper und vom nächsten Jahr an als Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper.
 
 

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