Polen hat derzeit wahrlich andere Probleme, als sich modellhaft an die Spitze kultureller Aktivitäten zu setzen. Zwanzig Prozent Arbeitslose sprechen eine massivere Sprache. Und dennoch ist es dem Festival für zeitgenössische Musik „Warschauer Herbst“ gelungen, so einen Modellcharakter anzunehmen.
Es ist dabei nicht in erster Linie das Ereignishafte der einzelnen Konzerte, was die Konzeption so faszinierend erscheinen lässt (auch wenn man kontinuierlich immer wieder neue Talente vor allem aus Polen und den benachbarten östlichen Ländern entdeckt). Was fasziniert, ist die begeisterte Anteilnahme (man möchte das Wort Akzeptanz hier gerne vermeiden) einer jungen und wohl auch desillusionierten Jugend am Verlauf des Festivals. Seit 1999 leitet der 1954 in Warschau geborene Komponist und Kontrabassist Tadeusz Wielecki das Festival und es hat sich Erstaunliches getan. Es gelang nicht nur, weit auseinander liegende ästhetische Lager zumindest an einen Tisch (oder in eine Veranstaltungsserie) zu bringen, es gelang auch, das öffentliche Interesse an diesem Festival (das zu Zeiten des Sozialismus eine Ausnahmeerscheinung war und schon deshalb als Sensation gefeiert wurde) neu zu beleben und wach zu halten. Auf der seit fünf Jahren parallel zum Warschauer Herbst veranstalteten Begegnung zwischen dem Deutschen Musikrat (der musikorganisatorisch Verantwortliche mitbringt) und Vertretern des polnischen Musiklebens berichtete Wielecki dieses Mal von seiner Sicht auf das Festival. „Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit des Veranstalters. Neue Musik soll nicht den Charakter einer Pflichtveranstaltung haben. Der Rest ist Hoffnung und Liebe.“ Wielecki trägt seine Überzeugung ganz unprätentiös und bescheiden vor. Gerade aber das ist sein Erfolgsrezept. Und er relativiert sogleich: Denn Erfolg lässt sich nicht pachten. Er muss von Festival zu Festival neu und kreativ errungen werden. Die Warschauer Jugend aber vertraut ihm und fährt in Scharen zu den oft weit entfernten Veranstaltungsorten, hin in aufgelassene Fabriken, in Werkshallen, in Sportzentren (und die Philharmonie ist auch dabei). Längst hat der Warschauer Herbst sein Gesicht geändert. Früher war er Treffpunkt aller neugierigen Musiker des Ostblocks, die hier eine Drehscheibe und Austauschbörse zwischen Ost und West vorfanden – es war im Grunde die einzige im sowjetischen Einflussgebiet. Heute aber muss das Festival verstärkt vor Ort gehen, die Attraktion des Ausbruchs aus kulturell reglementierten Zonen ist nach der Wende geschrumpft, dem Warschauer Herbst drohte sogar das Aus. Jetzt aber definierte er sich neu und ist auf dem Weg, zum Vorbild eines entkrampften, sich nicht mehr in einer Ghettosituation befindenden Festivals zu werden. Die gesellschaftlich verpönte Neue Musik schöpft Atem, hat Züge des Selbstverständlichen. Die Stadt Warschau scheint das zu registrieren und hat in diesem Jahr ihre Zuschüsse erhöht.
Hiervon ist zu lernen. Zeitgenössische Musikfestivals müssen, natürlich jedes seiner Funktion entsprechend, den Status von Enklaven verlassen. Das hat nichts mit dem Design einer Veranstaltung zu tun, auch nichts mit eventartiger Anbiederung. Es hat, wie Wielecki betonte, mit der Ehrlichkeit des Angebots zu tun, mit dem Bestreben, qualitativ Neues zu bieten, die Auseinandersetzung zu suchen, dem Publikum Brücken anzubieten. In diesem Experimentierfeld akzeptiert man dann gerne auch Ereignisse, von denen man annehmen darf, dass sie den Tag kaum überleben.
Dass es Neue Musik dem Hörer nicht leicht macht, ja nicht leicht machen darf (was wäre das für eine Verachtung des Hörers!), wird weithin akzeptiert und es gibt auch die Bereitschaft, sich dieser Herausforderung, es ist eine bereichernde, zu stellen. Sobald aber das Gefühl entsteht betrogen zu werden (durch Billiges, durch Unernsthaftigkeit, durch Marktschreierei), wird sich Misstrauen einstellen. Und eines ist ebenso wichtig: Der Veranstalter darf sich niemals auf irgendwelchen Lorbeeren ausruhen. Die Anforderungen bleiben immer jung: an die Komponisten, an die Veranstalter, ans Publikum. Diese Erfahrung nimmt man beim Warschauer Herbst mit.