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Frühlingsgefühle beim Warschauer Herbst

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Symposion zur Rolle der Musik des 21. Jahrhunderts beim Warschauer Festival
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Über Jahrzehnte war das 1956 gegründete Festival zeitgenössischer Musik „Warschauer Herbst“ die maßgebliche Adresse im damaligen Ostblock. Da konnte man hören, was anderswo als bourgeoiser Formalismus verpönt war. Die Polen mit ihren Speerspitzen Lutoslawski, Penderecki, Serocki oder Baird hatten sich einen Freiraum erkämpft, von dem man in anderen östlichen Ländern nicht einmal zu träumen wagte.

Über Jahrzehnte war das 1956 gegründete Festival zeitgenössischer Musik „Warschauer Herbst“ die maßgebliche Adresse im damaligen Ostblock. Da konnte man hören, was anderswo als bourgeoiser Formalismus verpönt war. Die Polen mit ihren Speerspitzen Lutoslawski, Penderecki, Serocki oder Baird hatten sich einen Freiraum erkämpft, von dem man in anderen östlichen Ländern nicht einmal zu träumen wagte.Und wenn man die Liste der aufgeführten Werke durchsieht, dann staunt man. Nono, Boulez, Ligeti, Stockhausen oder Cage waren schon Ende der 50er-Jahre in Warschau keine Unbekannten mehr, im Westen Spätentdeckte wie etwa György Kurtág schlugen dort schon weit früher feste Bastionen auf. Ästhetische Restriktionen gab es nicht und das breite Interesse stand somit beinahe mit im Pachtvertrag. Die kommunistische Regierung bezahlte, was nicht nur Feigenblatt, sondern auch Demonstration nationaler Eigenständigkeit war. Dieser Zustand hielt an bis zur Wende, danach wurde manches anders. Das erkämpfte Paradies ästhetischer Freizügigkeit bekam auf einmal Konkurrenz zu spüren, mehr noch die Zwänge des so genannten freien Marktes, der der Kunst bekanntlich neue Grenzen setzt: die der vorgeblich öffentlichen Akzeptanz. Es wurde stiller um den Warschauer Herbst.

Auf den ersten Blick war es schon etwas seltsam, wie sich das Festival in diesem Jahr präsentierte. Wo kommt es schon vor, dass sich der Leiter im Vorwort zum Programmbuch über die Schwierigkeit seines Amtes beklagt, dass er von Rücksichtnahmen spricht, während westliche Festivalleiter einzig dem eigenen Geschmack verpflichtet seien („Being a dictator is nice and comfortable...“)? Der Programmdirektor Tadeusz Wielecki tat es, fast stimmte er einen Klagegesang an, dessen bitterste Töne wohl zwischen den Zeilen verborgen waren. Der Staat finanziert noch immer maßgeblich den Warschauer Herbst, aber er verlangt, dass der mit mehr als zwanzig Konzerten ausladende zeitgenössische Tummelplatz auch Staat macht, zumindest schillernd Flagge zeigt. Zudem gibt es im tiefkatholischen Polen auf kompositorischem Gebiet ein stark konservatives Lager. Henryk Górecki, dessen untergründige dritte Sinfonie einst die englischen Charts eroberte, Krzysztof Penderecki, Pawel Szymanski oder auch der 50-jährige Erfolgsspätromantiker Eugeniusz Knapik stehen dafür. Bei der Uraufführung von dessen einstündiger Lied-Tondichtung „Up into the Silence“ durch das nationale polnische Rundfunkorchester unter Gabriel Chmura musste manch verdutzter Zuhörer Standortbestimmung treiben. Es klang wie ein Werk, das vielleicht Debussy wegen dramaturgischer Längen einst ad acta legte.

Pluralismus heißt der polnische Ausweg: Man gibt dem Kaiser, was des Kaisers ist und ertrotzt sich dadurch Freiräume für Experimentelles.

Wielecki schrieb salomonisch: „Für die, denen Schönberg grundlegender Wertmaßstab bleibt“. Das war ein Hieb gegen die postromantischen Tendenzen, die freilich auf der anderen Seite auch Publikumsschichten in die Konzerte führen, die sonst ausblieben. Und wirklich, der Andrang ist nach wie vor groß, die meisten Veranstaltungen, auch in der Philharmonie oder im fast erschreckend großen Witold-Lutoslawski-Studio im Rundfunk, waren ausverkauft. Wielecki baute vorsorglich noch ein zweites Standbein ein: Extrem Experimentelles sollte so dargeboten werden, dass es für die Medien attraktiv ist. So gab es zum Beispiel im letzten Jahr Stockhausens „Gruppen“ in einem Stadion, heuer setzte man unter anderem auf ein Multi-Media-Musiktheaterprojekt des Holländers Martijn Padding „Tattoed Tongues“, der zudem tags zuvor schon im großen, beängstigend gefüllten Jazzgot Club mit der hart geradlinigen, mit Jazzphrasen durchsetzten Komposition „Speculum Inversum“ durch das Amsterdamer „LOOS“-Ensemble spartenübergreifend eingeführt wurde. Es ist die Schule des großen Anarcho-Taoisten Louis Andriessen, die in diesem Konzert, verstellt zwischen Jazz, Minimalismus und avantgardistischen Strukturtechniken, unter Anwesenheit des Meisters vorgestellt wurde.

Der Warschauer Herbst boomt also immer noch, und davon profitierte auch das Konzert des Ensembles „United Berlin“ unter Peter Hirsch, das mit Arbeiten von Mathias Spahlinger, Jakob Ullmann und Hanspeter Kyburz durchaus sperrigere Kost bot. Pluralismus, dieses Wort scheint in Polen wirklich ernst genommen zu werden. In der Unsicherheit, wie es ästhetisch aber auch politisch weitergehen soll, bewahrt man sich das Wichtigste: Offenheit gegenüber allen Ansätzen.

Dieses Konzert hatte der Deutsche Musikrat mitgebracht, der damit hellhörig auf neue Tendenzen, neue Strukturen in Polen reagierte. Polen ist nun auch EU-Kandidat, mehrere EU-Länder gehen bereits auf Werbe-Tour. Nun hat sich auch ein polnischer Musikrat konstituiert und der Präsident des deutschen Bruderverbandes Franz Müller-Heuser will demnächst beim internationalen Treffen in Japan dessen Aufnahme in den weltweiten Dachverband unterstützen. Die nun beim Warschauer Herbst initiierte Zusammenarbeit soll ausgedehnt werden.

Dazu begann man mit einem Symposion mit dem Titel „Die Rolle der Musik des 21. Jahrhunderts“, das der blutjunge polnische (Präsident ist der Generaldirektor der Nationalphilharmonie Warschau Kazimierz Kord) und der altehrwürdige deutsche Musikrat veranstalteten. Das europäische Musikleben wird sich in den kommenden Jahrzehnten auf spürbare Art vernetzen, nationale Barrieren werden abgebaut werden. Man darf erwarten, dass dem auf organisatorischer Ebene massiv Rechnung getragen werden wird. Und je früher hierfür Schritte unternommen werden, desto wirksamer und erfolgreicher werden die Maßnahmen sein: zum Nutzen des europäischen Musiklebens. In zirka 20 Kurzreferaten, anmoderiert von nmz-Chefredakteur Theo Geißler und von Janusz Cisek, dem Vizedirektor für Zusammenarbeit mit dem Ausland im polnischen Ministerium für Kultur und Nationales Erbe, wurden jeweils von beiden Seiten Rahmenbedingungen musikalischer Aktivitäten abgesteckt. Man sprach über die mediale Betreuung der Musik (u.a. Gerti Peters, Mitarbeiterin des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, Krzysztof Knittel von der Vereinigung polnischer Komponisten, Andrzej Chlopecki von der Programmkommission „Warschauer Herbst“ und Rainer Pöllmann vom Deutschlandradio), über die staatlichen und privaten Fördermaßnahmen (Uli Kostenbader von Daimler Chrysler, Iwona Ryniewicz von der Kronenbergstiftung und Michael Rossnagl von der Siemens Kulturstiftung) bis hin etwa zu Fragen der bilateralen Zusammenarbeit (Eckart Rohlfs über Perspektiven der europäischen Musikwettbewerbe), der europäischen Integration oder zum Urheberrecht (Reinhold Kreile von der GEMA, Edward Pallasz von der Gesellschaft ZAIKS oder der polnische Berater für Urheberschutz im Kultusministerium Jan Bleszynski).

Es war ein erster Austausch, ein Forum des Kennenlernens. Den Veranstaltern war es gelungen, zu allen relevanten Fragen der Musik maßgebliche Vertreter sowohl aus Deutschland als auch aus Polen zusammenzubringen. Klar wurde, dass in Polen viel Organisatorisches noch in den Anfangsschuhen steckt, dass man von dieser Seite darum besonders die Erfahrungen anderer Länder sucht.

Aber auch die deutschen Vertreter profitierten. Denn die Herausforderung, die eigenen vielleicht schon ein- oder abgeschliffenen Gedanken auf neuer Basis zu prüfen, auch darüber nachzudenken, welche Anfangshürden zu umschiffen wären, stellte sich als fruchtbar heraus. Freilich kann solche Zusammenarbeit nur gedeihen, wenn sie auf freier und gleichberechtigter Ebene geschieht. Zu spüren war seitens der polnischen Vertreter durchaus Vorsicht gegenüber Vereinnahmung oder schnell aufgedrängte Rezepturen. Aber erste Barrieren in dieser Hinsicht wurden erfolgreich genommen.

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